Die Kinder des Ketzers
schienen, durch deren Bauchdecke man hineinblickte in ein eigenartiges Gewirr seltsam geformter Objekte. Schautafeln, auf denen eigentümliche Gegenstände abgebildet waren, Hepar – Leber war eines dieser Gebilde beschriftet, dessen Ähnlichkeit mit einer Schweineleber erschreckend war, Gaster
– Magen war ein weiteres, schlauchförmiges Ding ausgezeichnet. Cristino hielt inne.
Sie starrte auf einen rundlichen, spitz zulaufenden Gegenstand, gebettet in seltsame lappenartige Gebilde, die ihn schützend zu umgeben schienen. Cor. Das menschliche Herz.
Cristino hatte schon Rinderherzen gesehen, war aber immer der festen Überzeugung gewesen, dass ein menschliches Herz mitnichten dessen plumpe Form hatte, ein Herz wie auf den Mariendarstellungen oder auf den Illustrationen von Liebesgedichten hatte ihr vorgeschwebt, hellrot gefärbt, ebenmäßig geformt, ein Herz, dem man es ansah, dass es Hort der Empfindsamkeit, der Gefühle war, Herz wie Herzblut, Herzschmerz, Herzklopfen. Doch dieses Herz, das auf einer Art über Magen und Leber aufgespanntem Baldachin lag, mochte vielleicht etwas schlanker als ein Rinderherz 389
sein, unterschied sich aber sonst durch nichts von seinem animalischen Gegenstück, ein unförmiger, nur mit viel Einbildungskraft als herzförmig zu erkennender Klumpen, von dem dicke Rohre wie Hörner abstanden und in das Gewirr an Organen eintauchten. DE HUMANI CORPORIS FABRICA. So sah also ein menschlicher Körper von innen aus. Seltsamerweise fand sie es nicht eklig. Es hatte etwas ungeheuer Faszinierendes.
Sie blätterte zurück, zu den Menschen mit den gestreiften Wülsten. Anatomia musculorum, war auf einem Blatt vermerkt, so sahen also Muskeln aus, Gott, dass es so viele gab, und alle trugen sie einen Namen, musculus cubitum extendens, musculus brachium pectori adducens, musculus – ach, du meine Güte – bicorni tendine brachiale extendens. Und überall waren sie, selbst an Körperstellen, wo sie nie einen Muskel vermutet hätte, Muskeln hatte man an den Armen, die Männer zumindest, und manchmal auch an den Beinen, aber auf diesen Bildern war selbst der Kopf von Muskeln umgeben, sie bedeckten das Gesicht, umzirkelten die Augen und den Mund, zogen über den Schädel und hinunter zum Hals. Direkt unter der Haut waren sie gelegen, diese Muskeln, wie ein Bild ganz vorne suggerierte, das einen Menschen zeigte, dem nur ein kleines Stückchen Haut am Arm fehlte. Ein seltsamer Gedanke drängte sich ihr auf. Wenn die Muskeln wirklich so dicht unter der Haut lagen, war es dann auch ein Muskel gewesen, den Arnac de Couvencour sich bei seinem Kampf letztens verletzt hatte? Und welcher wohl? Sie blätterte und strahlte entzückt, als sie das fand, was sie gesucht hatte, einen Muskel, der wie eine Kappe die Schulter des Mannes auf dem Bild bedeckte. Musculus brachium attolens. Sie lehnte sich zurück. Ob Frauen wohl auch Muskeln hatten?
Diese Bilder zeigten jedenfalls nur Männer. Zwar trugen sie keine Kleidung und hatten keine Haare, aber man sah es gleich am Körperbau und an… na ja…
Puterrot blätterte sie weiter. Anstand besaß dieser Vesalius offensichtlich nicht. Diese Bilder zeigten ja wirklich alles!
Sie hielt inne. Ein seltsames Bild, ein Skelett, wie man es manchmal als Illustration in Friedhofskapellen fand, das an einer Säule lehnte, das knöcherne Kinn auf das Gebein seiner linken Hand 390
gestützt, die rechte Hand auf einem Totenschädel ruhend, den es sinnierend zu betrachten schien.
Sie spürte, wie sie zu zittern begann.
Die Tür ging auf. «Cristino – was machst du denn hier?», rief Bruder Antonius überrascht.
«Ich… ich ..» Hastig schlug sie das Buch zu. «Ich wollte…»
«Was liest du denn da?» Antonius verrenkte den Hals, dass er die Schrift auf dem Buchrücken erkennen konnte. Cristino hatte das Gefühl, dass ihr das Herz, ob ebenmäßig geformt oder nicht, in den Schoß rutschte. Das konnte doch auch nur ihr passieren – von einem Mönch dabei erwischt zu werden, wie sie in einem Buch las, in dem lauter nackte Männer abgebildet waren!
«Oh, Vesalius!» Erstaunlicherweise strahlte besagter Mönch über das ganze Gesicht. «Ich wusste ja gar nicht, dass deine Familie den Vesalius hat. Unglaublich! Ich habe schon so viel davon gehört, aber leider noch nie einen Blick hineingeworfen.» Bruder Antonius schlug das Buch auf und blätterte interessiert durch die Seiten.
«Unglaublich, wirklich!», murmelte er ein ums andere Mal. «Diese Exaktheit der
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