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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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langen, dünnen Herrn mit schütterem grauen Haar und einer hohen Piepsstimme, die kaum durch das Gedudel der Musikanten drang. Cristino glaubte daher auch im ersten Moment, sie habe eine seiner Anweisungen nicht richtig verstanden, als sie zum Sprung der Gaillarde ansetzen wollte, und Alexandre de Mergoult sich plötzlich zu ihr umwandte, statt sich von ihr wegzudrehen. Im nächsten Moment griff er zwischen ihre Beine, fasste die Halterung ihres Corsetts und schwang Cristino daran hoch in die Luft.
    Wie erstarrt blieb sie stehen, als ihre Füße endlich wieder den Erdboden berührten. Der Druck des Corsetts hatte ihr den Atem abgewürgt, aber das war nicht der Grund dafür, dass alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen war. Nie zuvor in ihrem Leben war ihr etwas derart Unschickliches widerfahren, der Kuss im Wald schien ihr demgegenüber von kindlicher Harmlosigkeit zu sein. Fassungslos starrte sie Alexandre de Mergoult an, während das Blut in ihr Gesicht zurückflutete und ihr das Gefühl gab zu kochen. Ein irritiertes Lächeln war auf Alexandres Gesicht erschienen.
    «Was ist, Barouneto – sagt bloß, Ihr kennt die Volta noch nicht!»
    Cristino brachte kein Wort hervor. Mechanisch schüttelte sie den Kopf.
    «Oh, verzeiht!» Mergoult ließ ein nachsichtiges Lachen hören.
    «Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass Ihr zum ersten Mal in der Stadt seid… natürlich, das ist nicht gerade ein Tanz, den einem die Frau Mutter beizubringen pflegt.» Er lächelte und hauchte ihr einen Kuss auf die Hand. «Ich habe Euch in Verlegenheit gebracht. Könnt Ihr mir verzeihen?»
    Unsicher sah Cristino sich um. Ringsum war eine leichte Unruhe auf der Tanzfläche entstanden, während die anderen Paare versuchten, an Cristino und Alexandre vorbeizukommen, ohne sie 584
    anzurempeln, und ihre unwilligen Blicke signalisierten deutlich, dass die beiden gefälligst weitertanzen oder aus dem Weg gehen sollten. Doch niemand schien schockiert oder peinlich berührt von Alexandres Verhalten, niemand tuschelte hinter vorgehaltener Hand oder schüttelte fassungslos den Kopf über das, was soeben geschehen war.
    «Ihr meint, das… gehört zu diesem Tanz?», fragte Cristino ungläubig.
    «Natürlich!», sagte Alexandre lachend. «Was habt Ihr denn gedacht? – Das ist jetzt in Mode, Barouneto. Ich meine, die Gaillarde ist schön und gut, aber doch etwas… nun, eher etwas für die älteren Herrschaften, nicht wahr?»
    Wieder schielte Cristino zu den anderen Tänzern hinüber. Gerade piepste die hohe Stimme des Tanzmeisters ein Kommando, und wie zuvor Alexandre ergriffen sämtliche jungen Herren die Korsetthalterung ihrer Tanzpartnerin und hoben sie im Schwung in die Luft, so dass die jungen Damen für einen Moment zu fliegen schienen, bevor sie wieder auf dem Boden aufsetzten. Das Jauchzen und Lachen der Mädchen bewies, dass sie dieses Verhalten keineswegs als Affront empfanden.
    «Selbstverständlich müssen wir nicht weitertanzen, wenn Euch dieser Tanz unangenehm ist», meinte Alexandre, und in seiner Stimme schwang jetzt eine leichte Ungeduld mit. Erneut schoss Cristino das Blut ins Gesicht. Herrgott, sie benahm sich wie eine dumme Gans, wie ein verschüchtertes kleines Mädchen, das vom Leben nichts wusste – nein, noch schlimmer, wie eine prüde alte Jungfer benahm sie sich! «Nein… nein, Baroun, es ist mir nicht unangenehm, ich war nur… etwas überrascht.» Sie kicherte albern. Gerade so, wie es ihre Mutter an ihrer Stelle getan hätte. Alexandre lächelte zufrieden und zog sie wieder in die Reihen der Tanzenden.
    Es war ein Tanz, wie Cristino ihn noch nie erlebt hatte. Die Musikanten waren großartig – sie spielten nur die Musik dieser saison , weshalb die jungen Herrschaften sie wahrscheinlich auch großartig gefunden hätten, wenn sie ihre Instrumente mit Füßen getreten, statt sie gespielt hätten –, der Saal mit all dem Kristall und Glas blitzte und funkelte wie ein einziger Edelstein, und die 585
    kreisenden Lichtwesen an den Wänden taten ein Übriges, um die Tanzenden in kürzester Zeit ihren Realitätssinn völlig verlieren zu lassen. Schon nach kürzester Zeit vergaß Cristino das Drücken ihres Korsetts, vergaß die offensichtliche Unschicklichkeit dieses Tanzes, sie ließ sich von Alexandre de Mergoult durch die Luft wirbeln, bis sie jede Orientierung verloren hatte, bis sie zu fliegen glaubte wie ein Vogel im Wind. Cristino tanzte, wie sie noch nie getanzt hatte, als habe sie ein Leben lang nichts anderes getan,

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