Die Kinder des Ketzers
starrte ihn an mit offenem Mund. Victor fuhr sich mit der Hand durch die Haare. «Ich weiß, Vater erzählt überall, Mutter habe über den Tod meiner Cousinen den Verstand verloren, aber so ist es nicht. Meine Mutter ist sehr wohl bei Verstand, wenn sie nüchtern ist, nur dass das immer seltener vorkommt.»
«Ja, aber…»
«Warum? Oh, Fabiou, wenn ich das wüsste. Mag sein, dass es wirklich mit dem Tod der Mädchen zusammenhängt. Dass sie ihren Kummer in Alkohol ersäufen wollte. Was weiß denn ich. Sie trinkt, seit ich ein kleiner Junge bin, und wenn sie trinkt, redet sie wirres Zeug und macht verrückte Sachen. Alle paar Wochen steigt sie aufs Dach und will ‘runterspringen, weil sie sich angeblich so schrecklich versündigt hat. Aber, Himmel, Vater kann den Nachbarn ja schlecht erzählen, dass meine Mutter säuft wie ein altes Bettelweib. Dann lieber die ergreifende Geschichte, dass die Trauer sie um den Verstand gebracht hat.»
Fabiou wich seinem Blick aus, Jesus, war das wieder peinlich!
«Ja, und Alessia weiß das?»
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«Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es noch nicht gemerkt hat, so viel Zeit, wie sie bei ihr verbringt», sagte Victor. «Ich frage mich, ob sie nicht versucht, diese Situation auszunützen. Für ein Glas Wein tut meine Mutter in bestimmten Situationen alles!»
Als habe Alessia ihre Unterhaltung belauscht, entwand sie sich jetzt aus Rouberts enthusiastischer Umarmung und kam winkend auf Fabiou und Victor zugetänzelt. Ihr schneeweißes Kleid wogte um sie wie eine riesige Schönwetterwolke, an Hals, Händen und Haar blitzten genug Klunker, um die spanische Königin neidisch zu machen. «Victor, wie schön, Euch zu sehen!», flötete sie. «Wie geht es Eurer Frau Mutter?»
Fabiou warf Victor einen unsicheren Blick zu, doch der sah Alessia nur eisig an und meinte: «Könnte nicht besser sein.»
«Die Arme!», seufzte Alessia dennoch. «Es muss doch schrecklich sein, eine Mutter zu haben, die so oft… unpässlich ist.» Sie schenkte ihm einen besonders tiefen Aufschlag ihrer samtschwarzen Augen.
«Ja. Sicher», sagte Victor unwillig.
«Oh, da ist ja auch der kleine Castelblanc!», rief Alessia und klatschte entzückt in die Hände. «Wo sind denn deine reizenden kleinen Schwestern?»
«Ich heiße Bèufort!», zischte Fabiou. «Und meine Schwestern sind älter als ich.»
Alessia hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und nach kürzester Zeit gefunden, was sie suchte. «Da ist sie ja – Marguerite, Marguerite, hierher!» Sie hüpfte auf die Tanzfläche, von Roubert de Buous mit schmachtendem Blick verfolgt, und warf sich zwischen Catarino und den jungen Brieul. «Marguerite, meine liebste Marguerite!», rief sie leutselig und hakte Catarino unter, während sie Brieul kokett zuzwinkerte.
«Was soll das?», fauchte Catarino.
«Marguerite…»
«Catarino, ich heiße Catarino!»
«Catérine, du musst vorsichtig sein.» Alessia hatte verschwörerisch die Stimme gesenkt. «Männer wie dieser Brieul… nun, ich schäme mich, es zu sagen, aber… sie denken immer nur an das Eine. Du magst das noch nicht verstehen, du bist schließlich noch 589
jung und unschuldig, aber glaube mir – diese Männer bringen deine Tugend in Gefahr. Besser, man gibt sich nicht mit ihnen ab.» Sie schenkte Brieul, der sichtlich weiche Knie bekam, ein sehnsüchtiges Lächeln.
«Verflucht, jetzt reicht’s mir aber!» Catarino riss sich von Alessias Arm los. «Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Glaubst du, ich durchschaue deine Masche nicht? Cathérine, deine Tugend, Cathérine, deine Unschuld, laberlaber. Du willst ihn mir ja bloß ausspannen. Und nicht mal, weil er dir irgendwas bedeutet, pah, das letzte Mal hast du ihn nicht mal angesehen! Dir geht’s doch nur darum, allen zu zeigen, dass du die Schönste und Tollste und Begehrenswerteste bist! Aber mir reicht’s jetzt endgültig mit dir, du miese kleine Schlampe! Du hörst jetzt ein für alle Mal auf, mir in den Weg zu kommen, oder ich schlag dir deine blöde geschminkte Fresse ein!»
Sie war bei den letzten Worten ziemlich laut geworden, laut genug, um die Musik zu übertönen, und das hatte zur Folge, dass die Zahl der Tanzenden deutlich gesunken war zugunsten derer, die am Rand der Tanzfläche standen und in einer Mischung aus Belustigung und Entrüstung Catarino und Alessia anstarrten, allen voran Cristino, die bei Catarinos letztem Satz mit einem Aufschrei die Hand vor den Mund geschlagen hatte.
Alessia brauchte einige Sekunden,
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