Die Kinder des Ketzers
alle Opfer katholisch?
Ist Trostett ermordet worden, weil er Carfadrael im Stich gelassen hat? Und Bossard – ich habe gehört, wie Bossard kurz vor seinem Tod sagte: Wir haben die Bruderschaft erledigt. Musste er deshalb sterben?»
«Junge, ich habe keine Ahnung, wer die Morde begeht und warum. Es würde mich allerdings sehr freuen, es herauszufinden. –
Wie kommst du im Übrigen auf die Idee, Trostett habe Carfadrael im Stich gelassen?»
Fabiou griff in seine Brusttasche und zog die beiden Exemplare von Trostetts Schreiben heraus. «Wollt Ihr es auf Deutsch lesen oder auf Französisch?»
Ingelfinger nahm Fabiou wortlos die Blätter aus der Hand und begann sie zu studieren. Fabiou sah zu Sébastien hinüber. Der beobachtete den Deutschen unruhig. Schließlich ließ Ingelfinger die Schriftstücke sinken und hob den Kopf. «Mein Gott», murmelte er,
«er hatte tatsächlich Gewissensbisse! Ausgerechnet Trostett!»
«Warum sagt Ihr: ausgerechnet?»
«Oh, er stand nicht gerade im Ruf, besonders zimperlich in seinen Methoden zu sein. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Wir waren schließlich mal Feinde.»
«Der Verrat, um den es in diesem Brief geht, ist der Verrat an der Bruderschaft, von dem Ihr vorhin erzählt habt, nicht wahr?», fragte Fabiou. «Aber was ist das für eine seltsame Geschichte mit dem Rächer, der von den Toten auferstanden ist? Und was hat es mit diesem Rablois auf sich? Die kleinen Töchter von Baroun Degrelho wurden von einer Frau ermordet, die vorher einen ähnlichen Mord in Rablois begangen hatte. Besteht da ein Zusammenhang?»
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Ingelfinger starrte ihn an. «Mein Gott, jetzt begreife ich das alles. Das würde ja bedeuten… mein Gott!» Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht hatte etwas an Farbe verloren.
«Was würde das bedeuten?», fragte Fabiou ungeduldig. Ingelfinger fuhr nur fort, den Kopf zu schütteln. «Kein Wunder, dass er bloß noch sterben wollte», sagte er leise.
«Was? Wieso? Was denkt Ihr?»
«Mein lieber Fabiou, das geht dich nicht das Geringste an. Sonst noch drängende Fragen? Ich habe nämlich noch zu tun», sagte Ingelfinger unwirsch.
Sébastien und Fabiou wechselten enttäuschte Blicke. «Ja», platzte Fabiou dann wieder heraus. «Neulich in der Stadt – was war das für eine Geschichte mit dem Umhang dieses Gauklers?»
«Wie bitte?»
«Da war dieser junge Gaukler, Hannes oder wie er heißt. Er hatte einen Umhang, auf dem ein Schnürschuh abgebildet war. Ihr habt ihn darauf angesprochen, und da hat er etwas von Familienerbstück und vom Blut von Konisofen erzählt, und Ihr habt gesagt, dass er sich wohl nach dem Galgen sehnt.»
Ingelfinger lehnte sich zurück. «Nicht Konisofen. Königshofen», verbesserte er.
«Was ist das, Königshofen?»
Ingelfinger seufzte leise. «Das ist eine Stadt im Süden Deutschlands. Der Schuh auf der Fahne war ein so genannter Bundschuh.»
«Bundschuh? Was bedeutet das?», fragte Sébastien.
«Vor etwa fünfundzwanzig Jahren erhoben sich die Bauern Süddeutschlands gegen ihre Fürsten, nach jahrzehntelanger brutaler Ausbeutung, die zu diversen Hungersnöten geführt hatte. Die neuen religiösen Lehren, die von der Freiheit des Menschen sprachen, taten ein Übriges, sie in die Rebellion zu treiben, allen voran die Lehren eines Martin Luther und eines Thomas Müntzer.»
«Thomas… wie?», fragte Fabiou.
«Ein reformatorischer Prediger. Er hat sehr radikale Ansichten vertreten, hat den Fürsten den Herrschaftsanspruch abgesprochen und die einfachen Leute zum Aufstand gegen die Herrschenden aufgerufen. Er wurde später mit den meisten seiner Anhänger hingerichtet. Luther dagegen distanzierte sich von den aufständischen 672
Bauern, meinte, sie haben seine Lehre falsch verstanden, es sei ihm stets nur um die Freiheit des Menschen in der Beziehung zu Gott gegangen und nicht um die persönliche Freiheit an sich. – Eines der wichtigsten Symbole der rebellischen Bauern war der Bundschuh, der einfache Bauernschuh im Gegensatz zu den feinen Stiefeln der Herren. Die Bundschuhfahne war das Banner der Bauern, die gegen ihre Herren in den Kampf zogen.»
«Wie ist die Sache ausgegangen?», fragte Sébastien gespannt.
«Na, wie wohl. Ein paar ausgehungerte, unorganisierte Bauern gegen ein Heer von Landsknechten, das der Kaiser aus dem Boden gestampft hat! Ihre zahlenmäßige Überlegenheit bedingte, dass die Bauern am Anfang ein paar Erfolge errangen, doch sie waren zu zerstritten, um ihre Siege strategisch nutzen zu können.
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