Die Kinder des Ketzers
ähnliches hatte Sant Sauvaire auch. Das jüngste Gericht. Zur Linken die geretteten Seelen, rechts die Verdammten. Eine steinerne Kette fesselte sie aneinander. Fabiou schüttelte heftig den Kopf und betrat die Kirche.
Drinnen kämpften flackernde Kerzen gegen ein Dunkel so tief wie die Nacht. Eine Gruppe von Knaben in schwarzen Umhängen filierte an einer Marienstatue vorbei und setzte sich in die zweite Reihe der Sitzbänke. Die Schüler von St. Trophimus. Die Elite von morgen. Die Schule hat einen sehr guten Ruf.
Auch sein Vater war einst in so einem schwarzen Umhang in dieser Bank gesessen. Sein Vater und Frederi. Frederi. Der Name war wie ein schlechter Geschmack auf der Zunge. Frederi hatte ihn dreizehn Jahre seines Lebens angelogen.
Er fand, was er suchte, nach wenigen Sekunden: Ein Mönch, der in der Reihe hinter den Knaben saß, offensichtlich, um ein Auge auf sie zu haben. Fabiou winkte Loís und Frederi Jùli hinter sich und schritt auf den Mönch zu. «Entschuldigt», sagte er. Der Mönch sah ungnädig auf. «Ihr stört bei der Andacht.»
«Ich suche den Leiter dieser Schule», erklärte Fabiou, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. Der Mönch betrachtete ihn einen Moment lang prüfend. Offenbar überlegte er sich, was so ein junger Bursche von einer so hochgestellten Persönlichkeit wollen könnte.
«Fragt Bruder Thomas», knurrte er dann. «Er ist in der Sakristei.» Er wies nach rechts. «Da drüben.»
«Danke schön», sagte Fabiou. Zwanzig Köpfe über schwarzen Umhängen wandten sich in ihre Richtung und sahen ihnen nach. 757
Bruder Thomas schmetterte gerade ein hingebungsvolles Dies irae, als die drei die Sakristei betraten. Der Gesang riss mit einem Misston bei dem Wort ‹creatura› ab. Er legte das Tuch aus der Hand, mit dem er gerade eben noch eine Orgelpfeife abgerieben hatte. Fabiou fragte sich spontan, ob dies eine der Orgelpfeifen war, an der sein Onkel seine akustischen Experimente durchgeführt hatte.
«Ja-a?», fragte er.
«Bruder Thomas?» Fabiou richtete sich zu seiner vollen Größe auf und versuchte, ein möglichst erwachsenes Gesicht zu machen.
«Ja, de-er bin iiich.» Auch wenn Bruder Thomas sprach, klang es, als ob er einen liturgischen Gesang intonierte.
«Fabiou de Bèufort, Adlatus des Notars Gastou Austelié zu Ais», stellte Fabiou sich ohne mit einer Wimper zu zucken vor. «Ich muss Euch in einer dringenden Angelegenheit sprechen.»
«Ja-a? Worum ge-het es?» Bruder Thomas schien es nicht weiter ungewöhnlich zu finden, dass ein Adliger als Angestellter eines Notars auftrat.
«Notar Austelié vertritt die Belange dieses jungen Waisen.» Er wies auf Frederi Jùli. «Das arme Kind hat schon im Säuglingsalter beide Eltern verloren und wurde offensichtlich von geldgierigen Verwandten in ein Waisenhaus abgeschoben.» Er bedachte Frederi Jùli mit einem «ein falsches Wort und du bist tot»-Blick. Doch Frederi machte keine Anstalten, querzuschießen, sondern setzte eine Trauermiene auf, wie es sich für eine arme, abgeschobene Waise gehört.
«Von seinen Eltern wissen wir nur die Vornamen und dass sie in Ais lebten», fuhr Fabiou fort. «Nun mehren sich die Hinweise, dass der Junge aus reichem, eventuell sogar adligem Hause stammt, weshalb ein Gönner des Kindes den Fall an Notar Austelié herantrug, der nun versucht, die Identität der Eltern des Knaben zu klären.» Er holte Luft, um die traurige Geschichte auf den Bruder wirken zu lassen, der in der Tat bereits ein äußerst mitfühlendes Gesicht machte. Offensichtlich stieß er sich nicht an der Tatsache, dass Frederi Jùli für ein armes Waisenkind extrem gut gekleidet war. «Wir sind nun bei unseren Nachforschungen auf den Namen dieser Schule gestoßen», sagte Fabiou dann. «Wie es scheint, hat der Vater des Jungen sie als Knabe besucht, vor etwa dreißig Jahren 758
müsste das gewesen sein. Gibt es jemanden in dieser Schule, der damals schon hier war und uns weiterhelfen könnte?»
Bruder Thomas, der jetzt wirklich sehr betroffen dreinsah, dachte nach. «So leid es mir tut – nein», sagte er dann. «Der Bruder, der am längsten hier ist, ist Bruder Coelestus, und der hat sich dieser Kongregation vor 25 Jahren angeschlossen. – Dies ist kein abgeschiedenes Kloster, in dem man sein Leben verbringt», erklärte er entschuldigend. «Viele bleiben ein paar Jahre und wenden sich dann wieder anderen Aufgaben in anderen Konventen zu.»
Fabiou hatte Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. «Gibt es
Weitere Kostenlose Bücher