Die Kinder des Ketzers
Zügel ergriffen. «Loís, du darfst nicht gehen! Du darfst mich nicht auch noch allein lassen! Erst Arnac, und jetzt du!
Ich hab’ doch Angst, Loís!»
«Wieso. Du hast doch den Mergoult, um dich zu beschützen», nörgelte Fabiou.
«Geh nicht, Loís, ich hab’ Angst um dich, bitte, bleib hier!», schluchzte Cristino.
Na toll, und wer hat Angst um mich?, dachte Fabiou beleidigt. Loís löste sanft Cristinos Hand von den Zügeln, und zu Fabious grenzenlosem Erstaunen legte er ihr daraufhin die Hände auf den Kopf und küsste ihr die Stirn. «Adiéu, Cristino», sagte er. Und seine Lippen formten noch etwas anderes.
«Ich liebe dich.»
Fabiou klappte den Mund wieder zu, schwang sich in den Sattel und trieb kopfschüttelnd sein Pferd an. Loís folgte ihm. Cristino blieb schluchzend im Tor stehen. «Ich dich auch», schniefte sie. «Ich dich auch.»
Der Himmel kippte von Grau zu seidigem Rosé.
***
748
Der Wächter hatte soeben das Tor geöffnet und salutierte kurz, als sie an ihm vorbei aus der Stadt ritten. Sie hatten es geschafft. Weit und frei lag das Land vor ihnen. Fabiou atmete tief durch. Er war sich nicht sicher, was ihn erwartete. Wahrscheinlich Mordbuben mit gewetzten Klingen und pieksigen Dolchen. Vielleicht aber auch ein paar Antworten.
Und auf alle Fälle seine erste, allererste Reise als erwachsener Mensch.
Er stieß einen Schrei aus und trieb sein Pferd an, und sie galoppierten los, in den aufblühenden Morgen hinein. 749
Kapitel 16
in dem Fabiou eine Reise in die Vergangenheit unternimmt Qui sont ces louayeurs qui s’éloignent du port,
hommagers à la vie, et félons à la mort?
dont l’étoile est leur bien, le vent leur fantasie?
Je vogue en même mer, et craindrai de périr
si ce n’est que je sais que cette même vie
n’est rien que le fanal qui me guide au mourir.
Wer sind diese Seeleute, die sich vom Hafen entfernen, dem Leben ergeben, nicht fürchtend den Tod?
Deren Stern ist ihr Mut, der Wind ihre Fantasie?
Ich reise auf demselben Meer, und hätte Angst unterzugehen, wenn ich nicht wüsste, dass eben jenes Leben
nichts anderes ist als das Fanal, das mich in den Tod führt. Jean de Sponde, baskischer Poet (1557-1595)
751
Der Weg nach Arle führt durch eine Landschaft aus sanften, bewaldeten Hügeln, kleinen, von Hecken und Steinriegeln begrenzten Feldern und in der Sonne dörrenden Wiesen. Ab und zu kommt man an Häusern vorbei: kleine Dörfer, deren Dächer sich unter der brütenden Mittagssonne ducken, gelegentlich die Burg eines Barouns oder ein klotziges Jagdschlösslein im italienischen Stil. Auf den Hügelkuppen reicht der Blick weit nach Norden, und man kann den Rücken des Großen Luberoun erkennen, blau durch die Ferne. Dann verändert sich das Bild zur Rechten. Zackige, kahle Bergformationen rücken ins Bild, braun und dürr in der Sommerhitze, die Gipfel weiß, als seien sie von Schnee bedeckt. Das sind die Aupiho, die «kleinen Alpen», und das Weiß sind die blankgeschliffenen Felsen auf ihren Höhen. Sie fallen aus in eine lange Neigung, auf der Gestrüpp und Olivenbäume wachsen. Dort, wo sie ihre größte Höhe erreichen, gibt es einen Pass, der nach Sant Roumié hinüber führt, doch aus der Ferne sind sie eine Mauer, ein unüberwindbares Hindernis. Im Süden flimmert die Luft, während sich die Hügel langsam in die Ebene öffnen. Dunst hängt über der Ferne zur Linken, blauer, undurchdringbarer Dunst, unter dem sich die weite, sumpfige Tieffläche verbirgt. Das ist das Rhônedelta, und die Carmargo, und dahinter, dort, wo Himmel und Erde sich berühren, einen halben Tagesritt nach Süden, liegt das Meer.
Gegen zehn Uhr vormittags näherten sie sich Seloun, und bereits jetzt herrschte eine drückende Hitze. In jedem Waldstück verrenkte Fabiou nun den Hals. Irgendwo hier waren Hector Degrelho und seine Familie ermordet worden – und seine Dienerschaft, ergänzte Loís. Fabiou wusste, es war albern, nach so langer Zeit noch nach Spuren zu suchen; falls es je welche gegeben hatte, waren sie längst vom Regen weggeschwemmt und vom Wald überwuchert, und dennoch betrachtete er jeden Ast und jeden Stein am Wegesrand, als ob er sich von ihm etwas ungemein Aufschlussreiches erwartete. Und da hielt Loís plötzlich sein Pferd an, wies nach hinten und sagte: «Baroun, seht nur.»
Auf dem Hügel hinter ihnen war ein Pferd auszumachen. Der Reiter war nicht zu erkennen, dazu war das Pferd noch viel zu weit entfernt, doch er ritt eindeutig in ihre
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