Die Kinder des Ketzers
gewesen.»
Fabiou schwieg. Loís hatte recht. Natürlich. Es gab nur einen Menschen, dessen Tod auf eine Mitgliedschaft in der Bruderschaft hinwies. Hector Degrelho. Die Pinie.
Aber deswegen mussten seine Freunde nicht zwangsläufig mit von der Partie gewesen sein.
Seine Freunde.
Quattuor veri amici.
Quattuor veri amici.
Quatt…
Fabiou ließ die Wasserflasche sinken. Er hatte das Schlucken vergessen, mit aufgeblasenen Backen starrte er auf das Tor von St. Trophimus.
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«Baroun?»
Fabiou schluckte jetzt doch. «Das gibt’s nicht», sagte er.
«Was?»
«Dass man so vernagelt sein kann.» Er stand auf, machte zwei Schritte auf den Platz hinaus und blieb wieder stehen.
«Wieso? Wer ist vernagelt?»
«Na, ich.» Fabiou schüttelte fassungslos den Kopf. «Ich hatte es doch die ganze Zeit vor Augen. Und trotzdem habe ich es nicht gemerkt.»
«Was? Was hattet Ihr vor Augen?»
«Das Bild!», rief Fabiou. «Das Bild von Vater, Onkel Pierre, Hector Degrelho und Couvencour!»
«Warum, was ist mit dem Bild?», fragte Frederi Jùli kauend.
«Quattuor veri amici dextrae rei impiger & generose addicti. Kapiert ihr denn nicht?»
«Nö», sagte Frederi Jùli, und Loís schüttelte den Kopf.
«Passt auf!» Fabiou zog seinen Kohlestift aus der Tasche, kniete sich auf das Pflaster und schrieb auf den Stein:
QUATTUOR
VERI
AMICI
DEXTRAE
REI
IMPIGER &
GENEROSE
ADDICTI
«Na?», schrie er triumphierend.
«Was na? Das ist der Satz von dem Bild, na und?», fragte Frederi Jùli.
«Vier wahre Freunde, die unermüdlich und großzügig der rechten Sache anhängen», übersetzte Loís. «Und?»
«Lest es!», schrie Fabiou. Er strahlte über das ganze Gesicht.
«Lest es doch.»
Loís und Frederi Jùli sahen sich an. Frederi Jùli machte eine Handbewegung vor dem Gesicht, die ganz klar andeuten sollte, 764
dass Fabiou offensichtlich irre war. «Lesen?», fragte Loís zweifelnd.
«Quattuor veri amici dex…»
«Das meine ich nicht!», rief Fabiou. «Die Anfangsbuchstaben!
Du musst die Anfangsbuchstaben lesen!»
Loís’ Augen weiteten sich. «Gott…»
«Ein Akronym!», schrie Fabiou lachend. «Es ist ein Akronym!
Und wir sind davorgestanden und haben es nicht gemerkt.»
Frederi Jùli starrte auf die Schrift auf dem Pflaster. «Q-V-A-D-RI-G-A», buchstabierte er.
***
Sie mieteten sich für die Nacht in einer Herberge namens «Goldener Schlüssel» ein. Sie war relativ billig, das Äußerste, was sie sich leisten konnten, die Betten waren wacklig, die Türen schlossen nicht und auf dem Fußboden vergnügten sich die Kakerlaken. Der Wirt, der ihnen ihr Zimmer zeigte, meinte, sie hätten eine gute Wahl getroffen mit ihrem Quartier, sogar König François sei hier einmal abgestiegen. «Ich wette, er war hoch zufrieden», meinte Fabiou trocken. So anstrengend der Tag und so gering der Schlaf in der vorangegangenen Nacht auch gewesen war, lag Fabiou doch fast die ganze Nacht wach und starrte die Decke an, die schwach vom Licht eines vollen Mondes erleuchtet wurde, der durch ein schmutziges Fenster fiel. Alles war anders. Jetzt, in einer Nacht in einer heruntergekommenen Spelunke am Stadtrand von Arle wurde ihm klar, dass alles, was er in seinem Leben für eine unabrückbare Gewissheit gehalten hatte, alles, was sein Leben, sein Selbstverständnis als Fabiou Kermanach de Bèufort ausmachte, eine Lüge war. Hier hatte es begonnen, hier in Arle, 1524, als Hector Degrelho, Querkopf aus der Keyrié, Rouland de Couvencour und Pierre Avingou, Vetter des braven Philomenus d’Auban und Forschergeist, kurz nacheinander in eine feuchte, zugige Klosterschule eintraten, um dort unter dem strengen Regime der Mönche Latein und Ergebenheit der Mutter Kirche gegenüber zu erlernen. Drei kleine Jungs, einer der Erbe einer reichen Barounie, einer ein verarmter 765
Landjunker, einer ein Bürgerlicher, alle drei um die acht, neun Jahre alt. Sie schlossen Freundschaft. Später stieß ein vierter dazu, Cristou Kermanach de Bèufort. Einer von ihnen oder alle zusammen haben die Idee, einen Geheimbund zu gründen. Ein dummes Kinderspiel.
Später würden sie einer nach dem anderen für dieses Kinderspiel in den Tod gehen.
Fabiou starrte an die Decke. Die Füße der Kakerlaken knisterten auf dem Fußboden. Was war ‘45 geschehen? Was war es, das die Bruderschaft damals verhindern wollte? Wer hasste sie so sehr, dass er ihren Tod wollte? Wenn Corbeille die Wahrheit sagte und die Vernichtung der Bruderschaft nicht das Werk der
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