Die Kinder des Ketzers
die Tatsache, dass sie in Aix mitnichten ein gerechtes Verfahren, sondern nur Ungerechtigkeit und letztlich vielleicht der Tod erwartete, sandten die von Mérindol stattdessen einen Beauftragten nach Aix, um Aufschub oder eine Untersuchung vor Ort zu erbitten, woraufhin das Parlament ohne eine weitere Warnung am 18. November 1540 einen Arrêt erließ, der besagte, dass sämtliche Verdächtigen aufgrund ihres Nichterscheinens innerhalb einer gesetzten Frist vor Gericht der Ketzerei überführt und damit zum Tode verurteilt seien, einschließlich der im Dekret genannten Frauen und Kinder, dass jene Familienangehörige der Verurteilten, die zwar nicht namentlich genannt und somit nicht der Ketzerei überführt seien, dennoch an die Galeeren und in die Sklaverei verkauft würden, und dass, da ganz Mérindol offensichtlich der Ketzerei anhing – eine Annahme, die auf einer einzigen Zeugenaussage beruhte, nämlich der eines ehemaligen Priesters des Ortes – der gesamte Ort niedergebrannt, die Wälder gerodet und sämtliche Güter konfisziert werden sollten. Ein Urteil, das nicht nur ein Verstoß gegen jeden Grundsatz der Menschlichkeit und christlicher Nächstenliebe ist, sondern jedem Recht und Gesetz widerspricht, das in diesem Land Gültigkeit hat. Ad unum ist es unrechtmäßig, eine Frist für abgelaufen zu erklären, über deren Existenz die Betroffenen nicht einmal informiert waren. Ad altrum ist es gegen jedes natürliche und göttliche Recht, eine Familie zu bestrafen für ein Vergehen, das nur eines oder ein Teil ihrer Mitglieder begangen hat, und umso mehr an Leib und Leben. Ad tertium ist es gegen jedes natürliche und göttliche Recht, unmündige Kinder zum Tode zu verurteilen. Ad quartum hat in keinem Fall überhaupt eine gerichtliche Untersuchung stattgefunden, die die Anklagepunkte verifizierte; weder hatten Richter des Parlaments sich vor Ort von den Vorwürfen gegen die von Mérindol überzeugt, noch war auch nur ein Einziger der Angeklagten ordnungsgemäß vor Gericht ge839
stellt worden mit der Möglichkeit, sich einen Anwalt zu seiner Verteidigung zu nehmen und eine Aussage zu machen oder Zeugen anzuführen, die ihn gegebenenfalls entlasteten.»
Was erschreckte ihn so an diesen Zeilen? Die Ungerechtigkeit und Gnadenlosigkeit, mit denen das Parlament gegen diese wehrlosen Menschen vorging? Oder die beängstigende Tatsache, wie sehr Onkel Pierres Argumentationsweise seiner eigenen glich? Du bist ihm so unglaublich ähnlich, hatte Beatrix gesagt.
«Zum Glück für die von Mérindol verweigerte der König dem Parlament jedoch zunächst die Unterstützung für dieses Vorhaben und sprach einen Gnadenerlass aus gegen alle, die sich wieder dem katholischen Glauben zuwandten. Auch in den Reihen des Parlaments selbst sank die Unterstützung für jenen überstürzt erlassenen Arrêt zusehends. Doch die, die von Anfang an den Erlass des Arrêts betrieben hatten, allen voran der Baron d’Oppède, Jean Maynier, Conseiller im Parlament, arbeiteten weiter unablässig auf seine Durchsetzung hin. Keine Parlamentssitzung verging, in der Oppède und seine Getreuen nicht eine neue Untat angeblicher Waldensischer Rebellen zu berichten hatten, sie organisieren sich zu Banden, bedrohen harmlose Christen, bewaffnen sich, ja, stellen ganze Armeen auf, so lauteten die ebenso haarstäubenden wie unglaubhaften Behauptungen, die wieder und wieder vorgebracht wurden und zu deren Untermauerung Zeugen herangezogen wurden, denen kein vernünftiges Gericht dieser Welt Glauben schenken würde – Kriminelle, die für einen Écu d’Or jede noch so absurde Lüge vor Gericht beschwören würden, Landjunker, von denen weithin bekannt war, dass sie nur auf die Aburteilung der Waldenser lauerten, um sich deren Land anzueignen – und andere, die nur berichteten, was ihnen gerüchteweise zu Ohren gekommen war. Und statt dass das Parlament Kommissare aussandte, das Gehörte vor Ort zu überprüfen, wurden jene Ammenmärchen kritiklos für wahr genommen. Endlich, im September 1543, wurde ein Richter namens Johannis ausgeschickt, den Lubéron und die anliegenden päpstlichen Ländereien zu bereisen, um sich selbst ein Bild von den Handlungen der Ketzer zu machen. Dieser bemerkte nichts von den vermeintlichen Heeren mordlustiger Waldenser, die nach Aussagen gewisser Richter und gewisser Barone den Lubéron 840
im Würgegriff hielten; allein in Cabrières du Comté traf er auf eine Gruppe von Männern um einen gewissen Eustache Marron und
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