Die Kinder des Ketzers
werden nicht wagen, auch Trévigny bei der Inquisition anzuzeigen!
Er machte sich auf den Weg zum Amt des Viguiés. Crestin machte ein verwundertes Gesicht, als Fabiou in seine Amtsstube trat, und Laballefraou sah auf von seiner Arbeit am Schreibpult und stieß Albin in die Seite, der neben ihm einen Aktenstapel sortierte. «Baroun.» Der Viguié flüchtete sich in ein spöttisches Lachen. «Hattet Ihr einen Unfall? Ihr seht aus, als hättet Ihr Euer début als Stierkämpfer gegeben.»
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Fabious Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das so angestrengt war, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat. «Ich hatte Euch um etwas gebeten, Mèstre Crestin», sagte er. «Wie steht es damit?»
Crestins prüfender Blick rückte nicht einen Zoll von seinem Gesicht ab, während er in die Ablage unter seinem Tisch griff und einen Packen vergilbendes Papier hervorzog. «Ich habe die Akte organisieren können. Aber ich fürchte, sie wird Euch enttäuschen.»
«Sie schreiben, dass es Selbstmord war, nicht wahr?», fragte Fabiou. Das Lächeln kämpfte um seine Lippen. Crestins Gesicht war erstaunt. «Woher wisst Ihr…»
«Maynier hat es mir gesagt», antwortete Fabiou. «Und ich muss sagen, er hat seine Aussage sehr glaubwürdig begründet.» Er streckte die Hand aus. «Gebt sie mir.»
«Ich brauche sie wieder», sagte der Viguié, während er Fabiou die Akte reichte. «Sonst macht Vascarvié mich fertig.»
Fabiou verstaute die Akte in seinem Wams. «Ein Handel, Viguié», sagte er. «Ihr wollt die Wahrheit wissen, so wie ich, nicht wahr? Ich werde Euch die Wahrheit liefern.»
«Handel, ah ja», sagte Crestin spöttisch. «Und was ist mein Anteil an dem Handel?»
«Ich brauche noch eine zweite Akte», sagte Fabiou. «Die Akte von meinem Onkel, Docteur Pierre Martin Avingou.»
Es war im Halbdunkel des Gangs, der aus dem Amt führte, dass eine Hand Fabiou am Arm fasste und in eine Nische zog. «Ihr sucht mich, Baroun?», fragte eine spöttische Stimme.
«Mèstre Ingelfinger?», fragte Fabiou erstaunt. «Ich hatte nicht erwartet, Euch wiederzusehen.»
Ingelfinger grinste spöttisch. «Vieles im Leben kommt unerwartet», sagte er. «Nun, habt Ihr’s immer noch nicht aufgegeben? Ich werde Euch weder erzählen, wer die Mitglieder der Bruderschaft waren noch wer sie warum verraten hat. Also, was wollt Ihr von mir?»
«Wissen, warum Ihr ihnen nicht geholfen habt», sagte Fabiou.
«Ihr hättet den Tod von ein paar tausend Waldensern verhindern können, wenn Ihr es getan hättet.»
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Nein, es war keine Einbildung. Diesmal war Ingelfinger zusammengezuckt. «Woher weißt du…», begann er lahm. Fabiou zog das Büchlein mit dem Ledereinband aus der Tasche und hielt Ingelfinger die erste Seite unter die Nase. «Das hat mein Onkel geschrieben, kurz vor seinem Tod. Docteur Pierre Avingou, alias Magister Morus, wie ich annehme.»
Ingelfinger sah mit einem langsamen Nicken auf das verschmierte Papier. «Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass wir keine Ahnung hatten? Ein Armutszeugnis für Spione, ich weiß. Aber die Bruderschaft, die Waldenser, Maynier – das interessierte uns doch alles nur am Rande! Wir lebten im Krieg, im Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, Rom und Italien, Spanien und England! Die Bruderschaft – ein kleines Detail in einem gigantischen Spiel. Sie hat uns nie richtig interessiert. Und genauso wenig haben uns Maynier und seine Pläne interessiert. Warum auch
– Strafexpeditionen gegen Ketzer waren an der Tagesordnung. Was war schon zu erwarten – ein paar Festnahmen, ein paar Hinrichtungen, ein paar Enteignungen, nicht schön das Ganze, aber zu unwesentlich im großen Zusammenhang, um sich darüber Gedanken zu machen.» Ingelfinger lächelte gequält. «Wer denkt schon, dass dieser Kerl den Mord an Tausenden plant? Wer denkt schon, dass er vorhat, einen ganzen Landstrich in Schutt und Asche zu legen?»
«Die Bruderschaft hat daran gedacht», meinte Fabiou unbewegt. Ingelfinger seufzte. Das Lausbubenhafte war aus seinem Gesicht verschwunden. Er sah plötzlich alt aus. «Wir haben sie nicht ernst genommen, Fabiou. Ein paar humanistische Schwärmer und Utopisten. Ich habe mich nicht um das gekümmert, was sie sagten. Ich wusste nicht einmal, dass Corbeille durch einen Verräter die Identität der Bruderschaft enträtselt hatte. Und Corbeille wusste nicht, dass die Bruderschaft einen Plan hegte, den Arrêt de Mé- rindol aufzuhalten. Und beide wussten wir nicht, dass der Verräter weiter an der
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