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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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Mörders. Cristino hatte sie an einem Fenster im zweiten Stock gesehen. Kein Mensch kann zu einem Fenster im zweiten Stock hereinsehen. Kein Mensch außer einem Akrobaten. Der Mann, der Alessia umgebracht hatte, eingestiegen zu einem Fenster. Der Mann, der vor Fabious Augen aus dem Zimmer des ermordeten Notars gestürzt war.
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    Sie hatte sein Geheimnis entdeckt. Es gab für ihn keinen Grund, warum er sie nicht ebenfalls töten sollte.
    Und der Vorhang, der den Zelteingang verschloss, schob sich beiseite und Hannes trat ein. Sie hätte die Decke wieder über die Maske werfen können, blitzschnell, bevor er merkte, was sie gesehen hatte. Sie hätte eine Bemerkung machen können, die ihm suggerierte, dass sie keine Ahnung hatte, was sie da vor sich sah, was für eine hübsche Maske, gehört die dir? Sie tat es nicht. Sie war wie gelähmt. Sie saß nur da, beide Hände um die verräterische Maske gelegt, und starrte ihn an.
    Er holte tief Luft. «Ich kann dir das erklären…», begann er. Sie rutschte rückwärts. Der alberne Versuch, den Abstand zwischen sich und ihm zu vergrößern. In ihrem Rücken lag jetzt die Rückwand des Zeltes. Vielleicht hätte sie unter der Plane durchkriechen können, wenn sie gewagt hätte, sich umzudrehen, ihm den Rücken zuzukehren. Sie wagte es nicht.
    Er kam auf sie zu, beide Hände beschwichtigend ausgestreckt.
    «Catarino, hör mir zu…»
    «Nein!», kreischte sie. «Rühr mich nicht an, nein!»
    Und der Vorhang flog beiseite.
    Hannes wirbelte herum, starrte auf die Männer die ins Innere gestürmt kamen. «He!», rief er, «he, was soll…» Er kam nicht weiter. Der erste hatte blitzschnell mit einem Knüppel zugeschlagen. Hannes sackte schreiend auf die Knie, die rechte Hand in den linken Oberarm gekrallt. Catarino sprang auf. Vergessen die Maske, vergessen die letzten drei Minuten. «Lasst ihn zufrieden!», kreischte sie. Er kauerte vor ihr auf dem Boden, die Augen panisch aufgerissen. «Catarino», stieß er hervor, «oh Gott…»
    Sie sah die Bewegung aus dem Augenwinkel. Als sie den Kopf hob, konnte sie für den Bruchteil einer Sekunde die Faust erahnen, die auf ihr Gesicht zuzuckte.
    Der Boden war weich unter ihrem Körper, Decken und Sand. Einen Moment lang lag sie so, spürte die seltsame, fließende Bewegung, mit der sich das Zelt um sie drehte und das gewaltsame Pochen des Herzschlags in ihrer Brust. Seltsam, dachte sie, als die 893
    Dunkelheit langsam auf sie zuflutete, so ist das also, wenn man stirbt. Irgendwo weit weit fort hörte sie Hannes ein zweites Mal schreien. Dann stürzte sie in die Nacht.
    ***
    Sein Pferd am Zügel führend betrat Victor Degrelho den von hohen Zedern überschatteten Hof. Sein Großvater hatte sie pflanzen lassen, vor vierzig Jahren vielleicht, und inzwischen waren stattliche, mächtige Bäume daraus geworden, die dem Betrachter Ehrfurcht einflößten und dem Hof Schatten spendeten. Dann stand er dort, eine von Schatten umlagerte Statue, und lauschte auf den Abendwind, der von den Bergen herabblies und die Pappeln jenseits des Baches erzittern ließ.
    Hier war er aufgewachsen. Hier, im Schatten jener Berge, die sich schroff und düster gegen den hellen Abendhimmel abhoben. Aqueli mountagno. Die Berge aus jenem Lied, das war für ihn immer die Kette der Aupiho gewesen, die gewaltige, hohe Kette, die ihn von seinen Lieben trennte wie jenen Dichter. Seine Lieben, die er vor endlosen Tagen auf jener Straße zwischen Ais und Seloun verloren hatte. Baissa-te mountagno, leva-te valoun, m’empachas de veire mis amours ount soun.*
    Hier hatten sie gespielt, im Schatten dieser Zedern, deren Äste sie emporgeklettert waren. Louise war am höchsten gekommen, sogar einen Ast weiter als Daniel. Nicht weil sie besser klettern konnte als er. Doch der Ast, auf dem sie am Schluss saß, lachend und mit den Beinen baumelnd, das war nur ein armseliges, dürres Zweiglein, nach menschlichem Ermessen zu dünn, ein Gewicht größer als das eines Spatzen zu tragen. Sie hatten die Augen geschlossen, Alice und er, und Daniel hatte gerufen, komm da runter, du blöde Ziege, der bricht doch, du stürzt ab, doch Louise hatte nur gelacht, Feiglinge, Feiglinge, während sie zehn Schritt über dem Boden in der Krone des Baumes schwebte. Louise hatte keine Angst gekannt. Vor gar nichts.
    *
    Senke dich, Berg, hebe dich, Tal, du hinderst mich, meine Lieben zu sehen. 894
    Im Haus war alles still. Er hätte an die Tür klopfen können, Lärm machen, bis der alte, halbblinde

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