Die Kinder des Ketzers
wenn sie sich so fühlte. Jemand hielt sie an der Hand, zog sie gnadenlos durch das Dickicht, eine Ge- stalt, leichenweiß die Haut im Licht eines fahlen Mondes, das weiße, luftige Kleid wie ein Totentuch, schwarze, lange Haare schwebend im Nachtwind. Die Gestalt sprach keinen Ton, nur das Huhuu des Käuzchens in der Nacht und das Kichern der verwun- schenen Bäume war zu hören. Cristino spürte, wie Angst in ihr hochstieg wie flüssiges Eis, sie wollte sich losreißen, wollte lau- 208
fen, zurück, nach Hause, ruckartig blieb sie stehen, versuchte ihre Hand aus dem Griff der Gestalt zu entwinden.
Die Gestalt hielt inne und drehte sich um, und ein weißes Ge- sicht mit Augen schwarz wie das Nichts blickte sie an. Es war das Mädchen mit dem Falken.
Und die Dunkelheit zerriss. Ein Spiegel stand dort, wo eben noch das Mondlicht das schwarzhaarige Mädchen bestrahlt hatte, ein Spiegel, vage beschienen vom Schein des vollen Mondes hinter dem Fenster. Sie trat näher, zögernd, da war das Bild in ihrem Kopf, die Maske mit der blutigen Träne, die ihr aus ihrem Spie- gelbild entgegengesehen hatte, und ganz langsam nur hob sie den Kopf, öffnete sie die Augen und starrte auf den Anblick, den der Spiegel ihr bot. Es war nicht das starre Lächeln einer toten Maske. Von der anderen Seite des Spiegels sah ihr ein kleines Mädchen entgegen.
Es hätte in der Tat sie selbst im Alter von drei oder vier Jahren sein können, blonde lockige Haare, blaue Augen, ein unschuldiges Lächeln auf dem pausbackigen Gesicht.
Bis auf das kleine, sternförmige Muttermal, das das fremde Mädchen auf der Stirn trug.
Der Spiegel war hoch aufgehängt, und Cristino, die Auge in Auge mit dem fremden Kind stand, brauchte nur den Kopf zu sen- ken, um auf die goldlackierte Zierleiste des Spiegels zu blicken, die die Form zweier liegender, einander anblickender Löwen hatte. Doch es waren nicht die Löwen, die ihren Blick ansaugten wie ein Strudel das Wasser.
Das lächelnde kleine Mädchen trug um den Hals Cristinos Medaillon.
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Kapitel 5
in dem es um alte Feinde und um neue Freunde geht Couchés dessus l’herbage vert
D’ombrages épais encourtinés
Écoutons le ramage du rossignolet.
Plantons le mai, plantons le mai
En ce joli mois de mai.
Gebettet auf grünes Weidegras,
dicke Schatten als Bettvorhang,
so lass uns dem Zwitschern der Nachtigall lauschen. Pflanzen wir den Mai, pflanzen wir den Mai,
in diesem schönen Monat Mai.
Antoine de Baïf, französischer Poet (1532-1589) 211
Am folgenden Tag, dem 19. April 1558, kehrten drei Reisende in der Aubergo dei Cacalauso d’Or, der Herberge zur Goldenen Schnecke ein. Dieses Gasthaus, das sich wie so viele andere in der Carriero d’Esquicho-Mousco befand, gehörte sicher nicht zu den besten und komfortabelsten in Ais, aber es war durchaus eine Örtlichkeit, in der man auch ohne Beziehungen zu Mitgliedern örtlicher Diebesbanden nächtigen konnte, ohne über Nacht seiner Geldbörse, seiner Kleider und wohlmöglich sogar seines Lebens beraubt zu werden. Besitzerin war eine Frau, die Panschers-Terèso, deren Namen nicht etwa auf die Qualität ihres Weines schließen ließ, der nämlich recht ordentlich war. Aber sie hatte das Wirtshaus von einem entfernten Vetter, dem Panschers-Guihaume, übernommen, dem man aufgrund des extremen Anteils an Wasser und Zucker in seinen alkoholischen Getränken die Gewerbeerlaubnis entzogen hatte, und der Name war an ihr hängen geblieben.
Die drei Fremden erreichten Ais und damit die Cacalauso d’Or aus unterschiedlichen Richtungen. Der erste, ein großer, kräftiger Mann mit einem fast völlig faltenlosen Gesicht unter einem praktisch kahlen Kopf, dessen Alter zu schätzen unmöglich war, betrat Ais aus östlicher Richtung kommend durch die Porto Bello-Gardo bereits am frühen Morgen. Er bestellte sich Brot und Schinken bei dem Schankmädchen, erklärte der Panschers-Terèso auf französisch, dass er ein paar Nächte zu bleiben gedächte, und zog sich dann sogleich mit seinem Frühstück in das ihm zugewiesene Zimmer zurück, mit dem dringenden Wunsch, nicht gestört zu werden, den er mit einer Handvoll Münzen auf der Schanktheke unterstrich.
Wenn die Leute zahlen, fragt man nicht, erklärte die PanschersTerèso dem Schankmädchen, einer dreizehnjährigen Göre, die sie eines Winters aus dem Straßengraben gezogen und an Kindes statt angenommen hatte.
Der zweite Fremde näherte sich Ais über die Route de Marsei- lle und gelangte über die Porto
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