Die Kinder des Ketzers
draußen. «Und?», fragte seine Frau ängstlich.
«Da ist niemand.» Er kehrte nach drinnen zurück. «Ihr müsst Euch getäuscht haben, Barouneto. Wahrscheinlich war es nur eine Spiegelung.»
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«Nein, ich habe es gesehen, eine Maske mit einem lachenden Mund und einem weinenden Auge!», erklärte Cristino vehement.
«Und die Tränen waren aus Blut!»
Die Blicke der Erwachsenen wirkten nun etwas belustigt. «Man sieht so allerhand nach einem Gläslein Wein – insbesondere ein so zartes Geschöpf wie Ihr, das den Alkohol nicht gewohnt ist», meinte der Senher d’Ardoche nicht ohne Spott in der Stimme, und die Leute gingen bereits wieder auseinander.
«Aber es ist die Wahrheit!», jammerte Cristino.
«Wollt Ihr Euch vielleicht ein wenig hinlegen, meine Liebe?», fragte die Ardoche freundlich.
«N…nein. Es… es geht mir gut.»
«Das ist fein.»
«Ich habe es mir nicht eingebildet!», zischte Cristino Fabiou zu, als die anderen gegangen waren und nur ihr Bruder noch nachdenklich durch die Fensterscheibe blickte. «Ich habe es gesehen!»
«Hm.» Fabiou verzog das Gesicht. «Eine Gestalt mit einer Maske auf einem Gesims im zweiten Stock, die binnen Sekunden auftaucht und wieder verschwindet – also, ein bisschen unwahrscheinlich klingt das ja schon!»
«Aber wenn es doch so war!»
Die Musik in ihrem Rücken hatte sich verändert, keine Tanzmusik mehr, man spielte sanftere Töne, Petrarca, und Bellay, und…
«Ronsard!», rief eine Mädchenstimme, und eine andere fiel ein:
«Oh, kennt ihr etwas aus den Nouvels Amours ?»
Oh, natürlich kannten sie, was sonst wurde zurzeit auf den Festivitäten gewünscht, und der Sänger legte sich ins Zeug, und etwas näher rückten die Mädchen an ihre Tanzpartner heran; dort, zwischen den Säulen, wo die Schatten sie verbargen, berührten sich Körper, und Cristino und Fabiou starrten auf Catarino, die hinter einem Vorhang verborgen den Kopf gegen Jean de Mergoults Schulter gelehnt hatte, und vor allem auf ihn, denn er schob ihre Haare zur Seite und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. 204
«Pourquoy tournez vous
voz yeux gratieux
de moy quand voulez m’occire?
Comme si n’aviez pouvoir par me voir,
d’un seul regard me destruire.
Las! vous le faites afin
que ma fin
ne me semblast bien heureuse,
si j’allois en perissant jouissant
de vostre oeillade amoureuse.
Mais quoy? vous abusez fort:
ceste mort,
qui vous semble tant cruelle,
me semble un gaing de bon heur
pour l’honneur
de vous qui estes si belle», juchzte der Sänger.
Warum wendet Ihr Eure
geneigten Augen
ab von mir, wenn Ihr mich töten wollt?
Als ob Ihr nicht die Macht hättet, wenn Ihr mich seht, mich mit einem Blick zu zerstören.
Ach! Ihr tut es,
damit mein Ende
mir nicht glücklich erscheint,
weil ich zugrundegehend
noch Euren verliebten Blick genieße.
Aber was? Ihr täuscht Euch sehr:
dieser Tod,
der Euch so grausam erscheint,
scheint mir ein Gewinn an Glück zu sein
für Eure Ehre,
die Ihr so schön seid.
«Jesus, manchmal hat sie echt einen verdammt schlechten Geschmack!», stöhnte Fabiou mit verdrehten Augen. Cristino begann zu heulen.
***
205
«Ich meine, natürlich ist er bloß ein alberner Junge, aber, weißt du, tanzen tut er echt gut. Und…», Catarino kicherte, «… küssen noch viel besser!»
Es war drei Uhr morgens, und die beiden Mädchen lagen in ihren Betten in der Carriero de Jouque. Anno, das Zimmermädchen, hatte kühlende Kamillenumschläge um Cristinos Füße gewickelt und diese dann auf ein Kissen gebettet, und so lag sie nun wie ein Häufchen Elend in ihrer Bettstatt, während Catarino mit vor Wein und Aufregung glühendem Gesicht unter ihrer Bettdecke herumrutschte. «Mit acht Männern habe ich heute Abend getanzt!», erklärte sie triumphal. «Andréu d’Estrave, Sébastien de Trévigny, Alexandre de Mergoult, Jean de Mergoult, Roubert und Artus de Buous, Charles Sère und… Moment, wer war der achte? Warte, also, Andréu d’Estrave, Sébastien de Trévigny, Alexandre de Mergoult, Jean de Mergoult, Roubert de Buous…»
Cristino starrte an die Decke und kämpfte mit den Tränen. Na, klar. Catarino. Catarino hatte mit sämtlichen jungen Männern getanzt, und alle waren verrückt nach ihr, und sie? – Dabei hatte alles so gut angefangen! Trévigny war so nett zu ihr gewesen, und Alexandre de Mergoult auch, wenn die blöden Schuhe nicht gewesen wären, dann hätten sie sich bestimmt in sie verliebt und ihr einen Heiratsantrag
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