Die Kinder des Ketzers
mitzählt.»
«Nicht unbedingt die vier, denen ich es zutrauen würde, dreizehn Jahre lang darauf zu warten, dass Trostett zurückkehrt, um ihm auf der Route d’Avignon ein Messer zwischen die Rippen zu jagen», entgegnete Corbeille.
«Der Graf…», sagte Ingelfinger versonnen.
«Wenn einer, dann er, natürlich», meinte Corbeille. «Trotzdem glaube ich nicht daran.»
«Ist das wahr, was man von ihm hört?», fragte Ingelfinger.
«Tu nicht so scheinheilig – als ob du nicht selbst bestens Bescheid wüsstest. Wenn du wissen willst, was ich von der Sache weiß – ja, der Graf ist wieder aktiv in letzter Zeit, setzt sich unheimlich für die Abschaffung der Chambre Ardente und die Rechte der Protestanten ein, er sollte dir eigentlich sympathisch sein. Nicht dass ich denke, dass er selbst Protestant geworden ist. Er gehört einfach zu denen, denen Ostern ‘45 ein für allemal den Spaß an jeder Form von religiösem Fanatismus verdorben hat. Ganz im Gegensatz zu den anderen beiden, die so katholisch sind wie der Papst und so brav und still wie die Karmeliterinnen. Und Cosmas ist mittlerweile seit Jahren außer Landes.»
«Stille Wasser gründen tief», murmelte Ingelfinger versonnen.
«Wie meinst du das?»
«Wer war es, Corbeille? Wer hat euch damals informiert?»
«Oh nein, mein Freund. Das ist Berufsgeheimnis. – Wirtin? Bitte noch einen Krug von dem Roten. Du bist auf der falschen Spur, Ingelfinger, glaub’ mir. Die Jungs waren eine Bande von naiven Schwärmern, wie man sie in dieser Gegend mit ihrer ach so glorreichen Vergangenheit und ihrer ach so trostlosen Gegenwart zuhauf findet, zu dumm, um zu begreifen, dass Trostett sie für seine Zwecke missbrauchte, um sie bei der ersten passenden Gelegenheit abzuservieren. Die begehen keine Morde, bestimmt nicht!»
«Möglich.» Ingelfinger zuckte mit den Achseln. «Aber wer war es dann?»
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«Schon mal an die Möglichkeit gedacht, dass es ein harmloser Raubmord sein könnte?»
Ingelfinger schluckte den letzten Bissen des Brotes herunter.
«Von Trostett kamen seltsame Nachrichten in letzter Zeit – man begann sich zu fragen, ob er den Verstand verlor! Und dennoch
– irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er an etwas dran war, etwas, was mit seiner eigentlichen Aufgabe nicht viel zu tun hatte. Und ich werde den Eindruck nicht los, dass es das war, was ihn letztlich das Leben gekostet hat.»
«Nun denn», grinste Corbeille, «machen wir uns daran, es herauszufinden.»
Ingelfinger lachte. «Was soll das heißen – wir stehen doch nicht etwa auf derselben Seite?»
«Wir? Nie!» Corbeille hob den Becher. «Auf die gute alte Zeit und die guten alten Feinde!»
«Darauf lass uns trinken!», bestätigte Ingelfinger lachend. Die Treppe knarrte, und sie sahen sich um.
Langsam stieg der Kahlköpfige in den Schankraum hinunter, den er durchquerte, ohne sich einmal umzusehen, um dann in den Lärm und das Gewühl der Carriero d’Esquicho-Mousco hinauszutreten.
«Merde», krächzte Corbeille.
«Jesses», flüsterte Ingelfinger.
Knarrend schloss sich die Tür. Einen Moment lang saß Corbeille erstarrt am Tisch, dann kippte er den Wein in einem Zug herunter und setzte den Becher ab. «Das Spiel ist wieder eröffnet», sagte er heiser. «Willkommen in der zweiten Runde.»
***
Was verdankte er Loís alles? Rückblickend betrachtet, war es viel. Fabiou Kermanach de Bèufort und Loís den Pferdeknecht verband jene extreme Vertrautheit, wie sie manchmal zwischen einem Herrn und einem Diener bestand, die sich seit frühester Jugend kannten, und die gelegentlich stärker war als die Bande der Verwandtschaft. Loís war es gewesen, der Fabiou das Stelzenlaufen beigebracht hatte, der ihm gezeigt hatte, wie man mit zusammengelegten Händen einen Eulenruf nachmachte, durch die Finger 218
pfiff, aus einem Stück Schilfrohr eine Flöte bastelte, wie man sich nachts im Wald zurechtfand, aus Rinde und Zweigen ein Segelboot baute und Kaninchenfallen aufstellte.
Loís war es auch gewesen, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte, als er mit acht Jahren an einem Dezembermorgen durch das dünne Eis auf dem Mühlteich gebrochen war. Seine Mutter hatte dieser Tatsache nie eine besondere Bedeutung zugemessen, schließlich war es die Aufgabe eines Dieners, seinen Herrn zu schützen. Es beeindruckte sie auch nicht weiter, dass sich der damals zwölfjährige Loís bei seiner Rettungsaktion eine Lungenentzündung zuzog, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Aber für Fabiou blieb
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