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Die Kinder des Saturn

Die Kinder des Saturn

Titel: Die Kinder des Saturn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stross Charles
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es so tief, dass unmerklich Jahre vergehen. Irgendwann fallen mir die unangenehmen Nebenwirkungen gar nicht mehr auf. Es ist so, als hätten sich einige
meiner Sinne zur Selbstverteidigung abgeschaltet. Ich habe lebhafte Halluzinationen, springe zwischen meinem Leben und dem Juliettes hin und her (und verarbeite dabei die Erinnerungen der Schwestern, die vor uns von der Bühne abgetreten und gestorben sind und deren Seelen ich später in mir aufgenommen habe). Dabei stoße ich auch auf vieles, das ich bedauere: Bei meinen Vorhaben bin ich nicht gerade besonders vernünftig vorgegangen. Die guten Zeiten sind mir einfach durch die Finger geglitten, und an die schlechten habe ich mich so geklammert, als wären sie das, was mein Herz begehrt. Allerdings ist es nicht nur mir so gegangen. Auch Juliette hatte wenig Grund zum Glücklichsein, es sei denn, bestimmte glückliche Momente sind mit dieser »anderen Sache« verbunden, die sie auf ihren Seelenchips niemals abgespeichert hat.
    Ich führe endlose Gespräche mit meinen verschiedenen Ichs und stelle mir vor, wie ich Granita ermorde (oder sie dazu bringe, mich aufrichtig, tief und wie wahnsinnig zu lieben, was in ihrer Denkweise auf das Gleiche hinauslaufen könnte). Hin und wieder schwelge ich auch in Fantasien, in denen Pete (beziehungsweise Petruchio) oder sogar der seltsame, unerfahrene Jeeves vom Mars vorkommen, und überlege dabei, wie ich Granita so austricksen kann, dass sie mir von sich aus befiehlt, Pete oder Jeeves zu verführen. Während ich in meiner Zelle schwebe, fällt die Ikarus bereits immer weiter auf die Sonne zu.
    So vergehen viele Monate. Ikarus breitet seine Flügel aus – nicht schmelzende Plasmascheiben, die die schwachen Böen des Solarwinds einfangen. Während wir wie ein winziger Komet nah am Strahlenkranz der Sonne vorbeifliegen, zündet er kurz seine Rakete und gewinnt durch den klassischen Oberth-Effekt zusätzliche Energie. Tag für Tag fegt der Solarwind über unser Plasmasegel und bläht es auf, so dass unsere Geschwindigkeit stetig zunimmt. Nach einem Jahr fliegen wir mit mehr als hundert Kilometern pro Sekunde. Schließlich kommt der Tag, an dem Ikarus das Schiff langsam einen Purzelbaum von hundertachtzig Grad vollführen lässt, den Raketenantrieb unmittelbar vor der
Krümmung von Eris nach unten ausrichtet und die Zündung für unser brutales Abbremsmanöver vorbereitet.
    Inzwischen nehme ich meine Umgebung überhaupt nicht mehr wahr, fühle mich elend und durcheinander und bin völlig mit meinen inneren Dialogen beschäftigt. Deshalb ist mir auch nur vage bewusst, was geschieht, als Ikarus das stoßdämpfende Gel aus meiner Zelle entfernt, seine Fühler einzieht, sie von meinem wunden, schlaffen Körper löst und sich schließlich auch die Sicherheitsgurte lockern und in ihren Halterungen verschwinden. Während ich auf dem Rücken liege und auf die rötliche Wand mir gegenüber starre, kommt es mir so vor, als müsste ich etwas erledigen, wenn ich nur wüsste, was.
    Oh, das. Gleichgültig sehe ich zu, wie mein linker Arm zuckt und sich nach oben streckt. Ich spüre, wie Juliettes Hand über mein Gesicht tastet, mir klebrig-feuchte, dünne Haarsträhnen aus der Stirn streicht, und ihre Finger schließlich zu meinem Nacken gleiten, zu … meinen Buchsen. Nein, das darf sie nicht, schießt es mir durch den Kopf, doch es ist schon zu spät, sie aufzuhalten.
    »Nein!«, protestiere ich, als sie die Haut über den Buchsen berührt und ins klebrige Gel greift. Ich versuche mich zu bewegen, schaffe es jedoch nicht, und spüre gleich darauf den seltsam grünlichen Geschmack von Reibungselektrizität. Mein Blick verschwimmt. Das Nächste, was ich sehe, ist eine Handfläche vor meinem Gesicht, über der ein Klümpchen Gel in der Mikroschwerkraft schwebt. In das Klümpchen ist ein schillernder Chip eingebettet, der durch die Oberflächenspannung darin festgehalten wird. Und dort, wo ich bislang die tröstliche Gewissheit fand, dass meine Gebieterin über mich wacht, klafft nur noch ein winziges kaltes Loch in meinem Schädel.
    »Du kannst den Chip wieder hineinstecken, falls du möchtest«, teilt Juliette mir lautlos mit. »Aber an deiner Stelle würde ich mir nicht die Mühe machen.«
    Angewidert schaue ich mir den Chip an. So also sieht das Ding aus, das die Sklaven lenkt. Sie hat mir verboten, es zu entfernen – wie hab ich das überhaupt geschafft?

    »Nein, nicht du hast den Chip herausgeholt, sondern ich«, denkt Juliette. »Ich hab

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