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Die Kinder des Saturn

Die Kinder des Saturn

Titel: Die Kinder des Saturn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stross Charles
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Paris’ Berührungen, ein nachhaltiges, deutliches Gespür für die Körper, die einander im Dojo zu Boden warfen. All das sind Dinge, die Juliette bestimmt besser kennt als ich. Normalerweise hat man auf der Grundlage von Erinnerungen einer verstorbenen Schwester nur dann ein Déjà-vu-Erlebnis, wenn man sich in deren Milieu bewegt, doch seit meiner Begegnung mit Jeeves sind immer wieder Erinnerungen in mir aufgeblitzt, die nur Juliette ausgelöst haben kann. Manche Spuren meines chaotischen Lebens vermischen sich jetzt mit ihren. Daher kommt mein erster plastischer Traum von Juliette auch nicht sonderlich überraschend.
    Juliette gehört zu meiner Abstammungslinie, zählt genau wie ich zu Rheas Sippe. Dennoch ist sie in mancher Hinsicht anders als ich. Sie hat seltsame tänzerische Reflexe, die ohne Vorwarnung einsetzen und mich so überrumpeln, dass ich in Reaktion auf Bewegungen, die ich aus den Augenwinkeln heraus flüchtig bemerkt habe, plötzlich herumwirbele. Natürlich hat sie auch ein Auge fürs Detail, das unserer Sippe eigen ist, doch sie setzt es nicht nur für Orte und Objekte, sondern genauso für Personen und Verhaltensweisen ein. Ständig blickt sie sich über die Schulter, denn sie fühlt sich beobachtet, aber nicht von Freunden. Dauernd ist sie angespannt, empfindet aber keine Angst. Und sie weiß sehr genau, wer sie ist.

    Die Sterne, die vom Himmel auf uns niederstrahlen, erinnern an lidlose, starr blickende Augen, die tief in den Höhlen eines Schädels sitzen. Ringsum ist es so dunkel, leer und stickig wie in einer Gruft. Ich merke sofort, dass es über uns kaum eine Atmosphäre gibt, noch bevor ich die fetthaltigen Wärmemanschetten spüre, die unterhalb meines Steppanzugs und des schweren Brokatmantels meine Gelenke umhüllen. Brokat? Stoff? Ich mustere die Felslandschaft ringsum und die niedrige Bruchsteinmauer, die in die gespenstischen Fehlfarben meiner Nachtsichtvorrichtung getaucht sind. Mondlicht. Ich blicke zu dem winzigen fliehenden Kiesel empor, der von Horizont zu Horizont huscht. Als ich den Blick noch weiter nach oben richte, erkenne ich die unheimliche messerscharfe Asenbrücke Bifröst , die den Himmel in zwei Hälften zerteilt. Das da muss Phobos sein. Natürlich, ich bin auf Mars. (Dunkel erinnere ich mich daran, dass ich mir vorhin ein Alibi verschafft habe. Ich befand mich auf einem hochoffiziellen Ball in einem Vergnügungspalast auf Olympus Mons und bin heimlich zu einem Ausflug auf einer Spinne aufgebrochen. Derweil wird ein Double – ein Zombie mit meinem Äußeren – mich so lange vertreten, wie die auf meiner Ballkarte eingetragenen Tänze dauern.) Erneut sehe ich mich um und achte sorgfältig darauf, ob mich jemand verfolgt. Mir kommt es so vor, als lauere ein unsichtbarer Gefährte außerhalb meines Blickfelds – jemand, der über mich wacht. Irgendetwas befindet sich auf der anderen Seite der Mauer, etwas Entsetzliches, Fremdartiges. Ich bin hierhergekommen, um einen riskanten Auftrag zu erledigen, und bin nervös (nein, Juliette ist nervös, ich dagegen habe Angst. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich mitten in den Erinnerungen irgendeiner Schwester gelandet bin – und innerhalb dieser Erinnerungen kann einem Schlimmes widerfahren).
    Weit hinter mir parkt eine Spinne; durch ihre geöffnete Tür fällt ein Lichtstrahl auf die rötliche Sandwüste. Jetzt weiß ich, wo ich bin, doch das gibt mir keineswegs ein besseres Gefühl. Hinter der Mauer kann ich die aus Stein gehauenen Kuppeln und Portale eines bekannten Mausoleums sehen. Vor dem unbarmherzigen
Himmel heben sie sich wie Skelette ausrangierter Raumschiffe ab. Auf Zehenspitzen schleiche ich den Pfad entlang, wobei mir klar ist, dass meine Informationen möglicherweise falsch sind. Vielleicht liegen die Wächter, für die dieser Ort berühmt ist, gar nicht im Tiefschlaf. Die Nacht ist kühl, und mein Mantel knistert beim Gehen – dieser Brokatstoff hat die unangenehme Eigenschaft, ständig zu rascheln.
    Der überdachte Friedhofseingang ist mit einem uralten Vorhängeschloss versperrt, das von Frost überzogen und von Sand glatt geschliffen ist. Es ist nur eine Sache von Sekunden, das Schloss zu knacken. (Ich schleppe ein hinterhältiges kleines Mehrzweckwerkzeug mit mir herum, das man auch als Nachschlüssel einsetzen kann.) Gleich darauf husche ich hinein und sehe mich um.
    Natürlich war es die dritte Expedition zum Mars, an die sich jeder erinnert, denn die Geschichte ist wirklich entsetzlich und ein

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