Die Kinder vom Teufelsmoor
sich vor die Glassärge der beiden Moorleichen.
Dort blieb er über zwei Stunden, umkreiste die braunen Körper und nahm nichts von dem wahr, was um ihn herum geschah. Die Leute betrachteten ihn argwöhnisch und machten bald den Museumswärter auf ihn aufmerksam.
Endlich kehrte er den Vitrinen den Rücken, stolperte die Treppe wieder hinunter und in das erste Kaufhaus, auf das er stieß, hinein. Hier brachte er es fertig, sich einen Anzug, ein Paar Schuhe, ein Oberhemd, einen Schlips, Handschuhe und einen Strohhut zu kaufen, und zwar nach der Mode, die damals galt.
Gleich im Geschäft zog er sich um, ließ die alten Kleidungsstücke liegen und fuhr in die Heide zurück.
Keiner hätte ihn wiedererkannt in seinem auffällig grüngestreiften Anzug, dem gelben Hemd, dem roten Schlips, den weißen Handschuhen und dem braunen Strohhut. Er war ein völlig anderer geworden, ein neuer Mensch.
Als er in seinem Heidedorf ankam, ging er nicht zu den Schafen zurück, sondern wanderte ins Moor hinaus, in die Landschaft seiner Kindheit. Ab und zu blieb er stehen, zog einen kleinen Spiegel, den er sich auch gekauft hatte, aus der Tasche und betrachtete sich. Und dann hastete er wieder weiter. Rasch entfernte er sich von den Feldern, wo Torf gestochen wurde, verlor sich tief in die Gebiete, die kaum jemals ein Mensch betreten hatte, wo Blasen aus dem schwarzen Wasser stiegen, Sumpfgas schwelte und weiße Wollgrasflocken über die Fläche wehten. Bald gab der Boden nach unter seinen Füßen, schwimmende Kissen von Moos und Kraut boten trügerischen Halt, versanken, wenn er sie zögernd betrat, federten zurück, sobald er den Fuß anhob. Aber er tastete sich weiter, sprang von Insel zu Insel, als sähe er die Gefahr nicht, in die er sich begab. Erst als kein Grasnest, kein Bulten aus Binsen und Torfmoos ihn mehr tragen wollte, blieb er stehen: er war am Ziel! Mit einem Lächeln, wie es sich nur in den Gesichtern der Menschen zeigt, die nichts mehr auf dieser Welt begehren, verharrte er eine Weile regungslos, zog ein letztes Mal den Spiegel aus der Tasche, betrachtete sein wetterbraunes Gesicht, seine bunte Kleidung, und sprang dann hinein in das schwarze Wasser, in den zähen, breiigen Morast, das Geflecht von tausend Torfmoosen.« »Warum?« fragte Berti erschrocken. »Warum hat er das getan? Darin mußte er doch ertrinken!« Hannes nickte.
»Er wollte ertrinken oder ersticken«, sagte er. »Er wollte eine Moorleiche werden! Darum hatte er sich Anzug, Hemd und all die andern Kleidungsstücke gekauft. Die Menschen, die viele tausend Jahre später lebten, sollten ihn ausgraben, in einen gläsernen Sarg legen, wie er es im Museum gesehen hatte, und seine Kleidung studieren.« »So ein verrückter Kerl!« rief Rolf. »Wie kann man bloß freiwillig sterben wollen!«
»Tja, wie kann man das!« fuhr Hannes fort. »Anders als die andern muß man wohl sein dafür. Jedenfalls stand er nun bis zu den Hüften im Sumpf und versank langsam.
Die Sonne schien, Wasserläufer zuckten über die Fläche, es war ein heiterer Tag, ein Tag, an dem sich jeder nur zu leben wünscht und alle Gedanken an den Tod verdrängt. Er aber, der Zwanzigjährige, erwartete ihn. Ihm war der Tod willkommen wie ein Freund. Indessen, als er immer tiefer eintauchte, das kühle Wasser ihm bis an die Brust reichte und die Moose ihn unentrinnbar festhielten, regte sich etwas in seinem Innern, das nach Leben schrie und den Tod fürchtete.
Eine namenlose Angst wuchs in ihm, wurde größer mit jedem Zentimeter, den er tiefer ins Grundlose sank, und weckte ihn aus dem geistigen Dämmerschlaf, in dem er seit dem Brand in seiner Kindheit gelegen hatte. Er erkannte, wie schrecklich das Ende sein würde, das ihm bevorstand, und tat das, was jeder von euch getan hätte: er schrie! Er schrie so laut, daß die Kiebitze in der Nähe kreischend aufflogen und abstrichen.
Aber wer sollte ihn hier hören in dieser Einöde, kilometerweit entfernt von jedem Pfad, jedem festen Weg? Seine Hilferufe verhallten, wurden geschluckt von Schwarzerlen und Porstgesträuch. Es dämmerte. Kein Mensch war um diese Zeit im Moor. Er war verloren. Der Tod stand schon hinter ihm. Da, als das Wasser seinen Hals erreichte, spürte er einen Halt unter den Füßen, etwas Festes, einen umgestürzten Baum oder eine Sandinsel, etwas jedenfalls, das ihn trug und seinem Gewicht nicht nachgab. Eine wilde Hoffnung flammte auf in ihm. Er betastete die Insel mit den Füßen, verharrte regungslos, wartete, ob er noch
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