Die Kinder von Alpha Centauri
Wochenendbälle in vornehmen Kreisen.
Die Tagträume waren nie ganz geschwunden, und daran lag es vielleicht, daß sie
später einen natürlichen Partner in Howard gefunden hatte, der sie seinerseits
mit den eigenen Idealen und Glaubenssätzen gleichsetzte. In ihren privaten
Gedanken während der Jahre, die jetzt vergangen waren, hatte sie sich oft gefragt,
ob sie vielleicht den Flug nach Chiron als eine mögliche Verwirklichung
längstvergessener Mädchenträume gesehen hatte, die auf der Erde niemals in
Erfüllung gegangen wären.
Waren ihre Bedenken jetzt Frühwarnsignale eines Teils von ihr, der die
Risse in zum Zerfall bestimmten Träumen schon bemerkt hatte, während sie vom
Bewußtsein her ihr Vorhandensein noch nicht eingestand? Wenn sie aufrichtig zu
sich selbst war, begann sie im Innersten Howard dafür zu verabscheuen, daß er
das zugelassen hatte! Bei der Abmachung, die sie stets als eine stillschweigende
unterstellte, hatte sie ihm zwanzig Jahre ihres Lebens anvertraut. Brach er
nun dieses Vertrauen, indem er zuließ, daß alles, wofür er eingestanden hatte,
von eben diesen Dingen bedroht wurde, vor denen sie zu schützen er stillschweigend
übernommen hatte? Überall beeilten sich Terraner, alles von sich zu werfen, was
zu bewahren und über vier Lichtjahre hinweg mit sich zu nehmen, sie gekämpft
und gerungen hatten, um das Leben der Chironer zu umfassen. Das Direktorat, das
für sie in Howard verkörpert war, unternahm nichts dagegen. Sie hatte einmal
ein Zitat von einer britischen Besucherin, Janet Shaw, bei deren Dreizehn
Kolonien im Jahr 1763 gelesen, die mit einiger Mißbilligung von der »höchst
widerlichen Gleichheit« gesprochen hatte, welche auf allen Seiten zu bemerken
gewesen sei.
Sie schluckte, während sie ihre Gedanken nachvollzog und sich
zusammennahm. Sie machte sich etwas vor oder verbarg etwas vor sich selbst, das
wußte sie. Howard war oft genug zornig und verbittert heimgekommen, nachdem er
Maßnahmen durchzusetzen versucht hatte, um dem Verfall Einhalt zu gebieten,
ohne Erfolg zu haben. Er tat, was er konnte, aber der Einfluß des Planeten
durchdrang alles. Sie legte einfach in ihn etwas anderes hinein und
personifizierte es - etwas, das tief aus ihr selbst kam. Noch während sie die
erste Regung ganz tiefliegender Dinge in sich spürte, sah sie sich und Howard
allein und unnachgiebig, verlassen und stagnierend, während der große Fluß
weiterströmte, ohne sie zu beachten. Nach zwanzig Jahren lag nichts vor ihnen
als Leere und Vergessen. Die kalte Wahrheit hinter ihrer Wut auf Howard war
die, daß ihr Beschützer sich als ebenso hilflos erwies, wie sie es selbst war.
Nun wußte sie, warum die Erde so weit entfernt lag. Und sie wußte auch,
was ihr Verstand in seiner Weisheit abgeschirmt und vor ihr verhüllt hatte. Es
war Angst.
Dann begriff sie langsam, worauf sie unbewußt bei den Gesichtern der
drei Kinder in der chironischen Skulptur angesprochen hatte. Der Künstler war
nicht bloß gut gewesen, sondern ein Meister. Denn hier war auch Angst, nicht
in irgendeiner Weise deutlich wahrzunehmen, sondern so, daß sie unterschwellig
in das Denken des Betrachters drang und es an seinen tiefsten Wurzeln packte.
Deswegen war sie während der Rückkehr von Franklin so beunruhigt gewesen. Aber
da war trotzdem noch etwas anderes. Sie spürte, daß es an den Rändern des
Bewußtseins nagte - etwas Tieferes, das sie noch nicht erfaßt hatte. Sie
richtete den Blick wieder auf die Skulptur.
Und nachdem sie sie lange betrachtet hatte, entdeckte sie, worauf die
Kinder warteten, das von weitem immer näherrückte, immer drohender wurde. Die
Erkenntnis ließ sie verkrampfen. Sogar von fünfzehn Jahren her ... es war sie -
denn sie war mit der »Mayflower II« gekommen. Da wußte sie, daß die Chironer im
Krieg lagen, und daß der Krieg erst aufhören würde, wenn sie selbst oder
diejenigen, die man ausgeschickt hatte, sie zu überwältigen, beseitigt waren.
Und bei ihrer ersten Begegnung hatte sie die Hilflosigkeit ihrer eigenen Leute
gespürt. Sie verspürte sie jetzt wieder, als der letzte Schleier von dem Rätsel
des Künstlers abfiel und hinter der Furcht und dem Zittern den Blick auf etwas
Mächtigeres und Unbesiegbares freigab als alle Waffen der »Mayflower II« zusammen.
Sie starrte auf ihren eigenen Untergang.
Sie stand hastig auf, ergriff die Plastik, legte sie mit zitternden
Händen in die Schachtel zurück und schob diese im Schrank ganz weit nach
hinten.
16
Port
Weitere Kostenlose Bücher