Die Kinder von Avalon (German Edition)
runter!«, schrie sie ihm ins Ohr. »Ich kann das nicht!«
Siggi arbeitete sich gegen den Wind zu ihnen heran. »Was hat sie gesagt?«
»Sie sagt, sie kann da nicht runter!«
Siggi erinnerte sich, dass Gunhild immer schon Angst vor Höhen gehabt hatte. So wie er sich vor engen Räumen fürchtete. »Sie kann das wirklich nicht«, meinte er, und mit einem Blick auf die glatten, nassen Felsen dachte er: Ich weiß nicht mal, ob ich das schaffe.
Hagen wandte sich um. Hinter ihnen war der Alte im Eingang zwischen den Basaltpfeilern aufgetaucht. Er blinzelte wie eine Eule, als wisse er nicht, ob er träume oder wach sei. »Gibt es noch einen anderen Weg?«, fragte Hagen.
Der Alte erwachte aus seiner Starre. »Es ist nur ein Traum«, erklärte er. »Schließt die Augen und träumt euch den Weg …«
»Er spinnt«, sagte Siggi.
Hagen wandte sich an Mâth. »Kein anderer Weg?«, fragte er knapp.
Das Antlitz des Gottes war undeutbar wie verwitterter Stein. »Nicht für das, was auf Erden geht …«
Hagen fasste einen Entschluss. Er drängte sich ganz eng an Gunhild; dennoch musste er fast schreien, um sich verständlich zu machen. Das Donnern der Wassermassen übertönte nicht nur alles andere, es machte auch die Ohren taub. »Du machst die Augen zu«, sagte er zu ihr. »Halt dich an mir fest …«
Sie sah ihn zweifelnd an.
»Vertrau mir …«
Sie lächelte tapfer, dann nickte sie.
»Los!«
Siggi machte den Anfang. Die ersten Stufen waren so hoch, dass er sich eine nach der anderen hinunterhangeln musste. Seine Finger verkrampften, weil er sich an den Kanten festklammerte, doch der Stein war so glatt, dass er keinen Halt bot. Je weiter er kam, desto flacher wurden die Absätze. Dafür wurde der Wind stärker.
Jemand war neben ihm. Siggi warf einen Blick hinüber. Es war der Alte – Taliessin, Merlin, Gwydion, wie immer er hieß; er würde ihn nur noch den Alten nennen. Hier am Rand der Welt verloren selbst Namen ihre Bedeutung. Er bewegte sich mit erstaunlicher Behändigkeit. Der Wind peitschte ihm die Kleider um die hageren Gliedmaßen. Das Haar und der schüttere Bart, nass von der Gischt, wehten ihm ums Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen.
Im Weiterklettern blickte Siggi nach oben. Hagen und Gunhild waren dicht hinter ihm. Hagen benutzte den Speer als Steighilfe. Siggi konnte nicht richtig sehen, wie er es machte; er musste sich auf seine eigene Umgebung konzentrieren.
Jede Verständigung war inzwischen unmöglich geworden. Es gab nichts als die Hölle unter ihnen, den Himmel über ihnen und das brüllende Chaos ringsum. Der Regenbogen, der über dem Abgrund hing, spiegelte sich in dem nassen Basalt und ließ ihn wie eine Eisfläche erscheinen.
Siggi warf einen Blick nach oben, um zu sehen, ob Mâth noch dort stand und sie beobachtete. In den wirbelnden Wassertropfen war nichts mehr zu erkennen, nicht einmal der Umriss der Felsen.
Seine Hand rutschte über eine Kante und glitt ab.
Einen Augenblick lang wusste er nicht mehr, wo rechts und links war, vorn und hinten, oben und unten. Er glitt über die schwarze, spiegelnde Fläche, und sie drehte sich unter ihm hinweg. Mit ausgebreiteten Armen griff er um sich. Die Basaltblöcke waren so fest verfugt, dass sich kaum eine Messerklinge dazwischentreiben ließ …
Eine Schwertklinge … Das Schwert!
Seine Finger fanden Halt an einem vorspringenden Fels. Es würde nicht reichen, um seinen Sturz aufzuhalten, aber es gab ihm den winzigen Vorteil, den er brauchte.
Während seine linke Hand sich um den Felsen krallte, griff er mit der rechten nach dem Schwert. Er spürte den Griff in seiner Hand. Wie von selbst glitt die Klinge aus der Scheide.
Jetzt galt es! Wenn er jetzt das Schwert verlor, dann war alles verloren.
Er schloss die Augen, löste den Griff seiner Linken, richtete sich auf, und trieb die lange, blitzende Klinge in den Stein.
Die Welt kam wieder zum Stillstand. Er hatte wieder einen festen Punkt, an den er sich halten konnte. Das Schwert im Stein.
Er öffnete die Augen wieder – und sah hinab in den brodelnden Abgrund.
Tief, tief auf dem Grund der Welt wand sich die Schlange. Ewig windet sie sich dort, ohne Anfang und Ende. Von allen Mächten der Welt ist sie die älteste. Aber auch sie, das wusste Siggi plötzlich mit einer Klarheit, wie ihm noch nie etwas bewusst gewesen war, ist am Ende machtlos gegen den Willen und das Schwert.
Er richtete sich auf. Die treibende Kraft des Windes, obwohl sie immer noch zu spüren war, hatte
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