Die Kinder von Avalon (German Edition)
der Nacht. Gunhild lief weiter. Ihre eigenen Schritte, gedämpft von dem weichen Boden, hallten ihr in den Ohren. Dann ragten vor ihr zwei riesige Schatten auf und löschten die Sterne aus.
Sie stand in dem Eingang zum Steinkreis. Doch diesmal gab es keine unsichtbare Wand, keine knisternde Energie, die ihr den Zutritt verwehrte. Die großen Steine standen schweigend im Mondlicht, leblos und stumm. Und in der Mitte des Kreises war – nichts.
Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie wusste nicht, warum.
Sie wandte sich um. Taliessin war bei ihr; er musste gerannt sein, doch sein Atem ging nicht schneller als sonst. Mit einem Aufschluchzen warf Gunhild sich an seine Brust und schlang die Arme um ihn.
»Das Einhorn«, schluchzte sie. »Es ist fort.«
Irgendwie hatte sie gehofft, ersehnt, darum gebetet, dass jenes wundersame Wesen, welches sie für nur wenige Augenblicke geschaut hatte, wieder hier sein würde, um sie zu begrüßen. Aber jetzt, da es nicht da war, fühlte Gunhild sich so einsam, dass sie glaubte, das Herz müsste ihr zerspringen.
Taliessin hielt sie fest und strich ihr über den Kopf. »Es ist gut, mein Kind. Es wird alles gut.«
»Nein«, schniefte Gunhild. »Ich habe es befreit, verstehst du, aber ich hab ja nicht gewusst … Es ist so hilflos. Die Hunde werden es finden. Sie werden es zerreißen. Ich hab versucht, sie abzulenken, aber …« Sie konnte nicht mehr weiterreden.
»Ruhig«, sagte der Alte. »Ist es wirklich wahr: Du hast das Einhorn befreit, das in diesem Kreis gefangen war?« Gunhild konnte nicht antworten, sie nickte nur.
Staunen lag in seiner Stimme. »Ich hätte geglaubt, dass keiner von uns Nachgeborenen die Kraft besäße, den Bann zu brechen, den die Alten der Vorzeit hier errichteten. Sie bannten das, was sie nicht verstanden – so wie Menschen zu allen Zeiten das töten, was ihnen fremd ist, und das, was sie nicht töten können, fürchten.«
Gunhild hatte sich wieder ein wenig gefasst. Sie löste sich aus den Armen des Alten. »Dann war es richtig, was ich getan habe?«
Er lachte, ein befreiendes Lachen. »Es war mehr als nur richtig. Diese Tat wird als eine der Drei Guten Taten in den Triaden von Prydain besungen werden. Und vieles andere mag daraus folgen, von dem keiner der Alten etwas erahnen konnte.«
Sanft nahm er sie am Arm und führte sie wieder auf den Weg zurück, fort von den hoch aufragenden Steinen. Gunhild ließ es mit sich geschehen, noch ganz benommen von seinen Worten.
»Das Einhorn ist jetzt frei«, fuhr er fort. »Obwohl ich mich immer noch frage, wie dies geschehen konnte. Denn es heißt, dass nur der Stein den Stein zerbricht. Und wo gäbe es in diesen Zeiten, in denen der Zauber schwindet, einen Stein von solcher Macht, dass er den Bann aufheben könnte, der seit undenklichen Zeiten lebendig ist?«
Gunhilds Hand ging unwillkürlich zu ihrer Brust, wo unter der Kleidung etwas Hartes, Kristallenes an einer goldenen Kette um ihren Hals hing. Aber in der Dunkelheit sah der Alte die Bewegung nicht.
»Und ich frage mich«, sprach Taliessin weiter, wie zu sich selbst, »wenn es wahr ist, was du sagst, wieso die Hunde Annwns von dem Einhorn abließen und dir folgten, so als seiest du ihnen noch wichtiger als das wunderbarste Geschöpf vom Anbeginn der Welt. Was mag es sein, das dich so wertvoll macht, Kind der Erde?«
Gunhild fasste sich ein Herz. »Vielleicht ist es das hier.« Sie zog den Kristall heraus. Obwohl hier unten auf den Weg zwischen den hohen Bäumen kaum ein Schimmer vom Schein des Mondes oder ein Funke vom Glitzern der fernen Sterne herabdrang, erstrahlten die geschliffenen Facetten wie unter einem inneren Feuer.
Taliessin war stehen geblieben. Das Licht des Steins spiegelte sich in seinen Augen.
»Dies ist kein gewöhnlicher Kristall«, sagte er.
»Nein«, erklärte Gunhild, »er wurde mir zur Erinnerung gegeben.« Eine seltsame Befangenheit hinderte sie daran, näher darauf einzugehen. »Obwohl ich manchmal glaube, dass er nur geliehen ist.«
»Dies ist ein Wunder über alle Wunder«, sagte Taliessin leise, »auf das ich nie zu hoffen gewagt hatte. Und dich nenne ich gesegnet, denn ich glaube, du bist Gwenhyfar, der lichte Schatten, der mir geweissagt wurde als Hoffnung gegen die dunklen Schatten von Annwn.«
Die seltsamen Worte, die getragene Sprache waren ihr in den Momenten, als sie selbst im Innersten aufgewühlt gewesen war, ganz natürlich vorgekommen. Jetzt empfand sie sie wieder als irgendwie hochgestochen und
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