Die Kinder von Avalon (German Edition)
…«
»Starling«, wies sie der Barde streng zurecht und fuhr dann in milderem Ton fort, während der Wagen rumpelnd und ächzend dahinrollte:
»Der Starling flog übers Meer, Stunde um Stunde, bis seine Flügel ihn nicht mehr tragen konnten. Doch ein Wind kam auf und blies ihn an die Gestade von Prydain. Dort fand ihn ein Fischer, der am Morgen zum Strand ging, und als er den Brief unter dem Flügel sah, brachte er den Vogel zu König Brân. Brân las den Brief und befahl sofort, ein Heer aufzustellen, um damit gen Erin zu ziehen.
Bald darauf kamen Boten zu Matholwch, dem König von Erin, und berichteten ihm von einem wundersamen Anblick: Ein Wald wachse auf dem Meer und in der Mitte davon erhebe sich ein Berg aus den Fluten und Wald und Berg kämen immer näher. Man holte Branwen, damit sie das Zeichen deute, und sie lachte und sagte: ›Der Wald, das sind die Masten der Schiffe von Prydain, und der Berg, das ist Brân, mein Bruder, der mich holen kommt.‹
Der König von Erin und seine Edlen gingen mit sich zu Rate und fassten folgenden Plan: Eine riesige Halle sollte gebaut werden, groß genug, dass Brân – dies, so hofften sie, würde ihn besänftigen – darin aufrecht stehen konnte, und sie wollten ein Fest für ihn und seine gesamte Mannschaft ausrichten, und Matholwch sollte ihm die Oberherrschaft von Erin anbieten und ihm Treue schwören. All dies geschah auf Branwens Rat. Doch die Männer von Erin fügten dem noch eine List hinzu: An jedem der hundert Pfeiler in der Halle wollte man an zwei Haken je einen großen Ledersack hängen mit einem gewappneten Krieger darin, und auf ein Zeichen hin sollten die Krieger die Säcke aufschlitzen und über die Männer von Prydain in der Halle herfallen und sie erschlagen.
Evnissyen jedoch … Du erinnerst dich noch an Evnissyen?«
»Was?« Gunhild schreckte auf. »Evnissyen? Der … der Bruder, der immer Streit suchte?«
»Genau. Evnissyen wanderte vor der übrigen Heerschar in die Halle, und als er mit wildem Blick die Säcke sah, die an den Pfeilern hingen, fragte er einen der Diener: ›Was ist in diesem Sack?‹ Der Diener antwortete: ›Mehl, guter Mann.‹ Evnissyen legte die Hand auf den Sack und fühlte mit seinen Fingern, bis er zu dem Kopf des Mannes kam, der darin steckte. Dann presste er den Kopf so lange, bis die Knochen unter dem Druck nachgaben. Er ging zum nächsten Sack und stellte dieselbe Frage. ›Mehl‹, antwortete der Diener erneut, und Evnissyen zerdrückte den Kopf dieses Kriegers ebenso, und so tat er es mit allen zweihundert, selbst bei dem Letzten von ihnen, dessen Kopf ein eiserner Helm schützte.«
»Das ist ja brutal.« Gunhild schüttelte sich.
Der Barde sah sie erstaunt an. »Hättest du es als weniger brutal empfunden, wenn die Krieger aus den Säcken über uns hergefallen wären, um uns zu töten?«
»Nein, das wollte ich nicht sagen«, lenkte Gunhild ein. »Aber … du redest so, als wärst du dabei gewesen.«
Der Alte ging auf den Einwand nicht ein. »Das Fest begann«, fuhr er fort, »und Frieden und Eintracht regierten, und Matholwch legte die Herrschaft über Erin nieder, die auf Brân übertragen wurde, und nahm sie als Lehen aus seinen Händen zurück. Und sie alle herzten und küssten die kleine Gwen, bis die Reihe an Evnissyen kam. Der packte sie plötzlich und stieß sie ins Feuer. Dann gab es einen Tumult in der Halle, und die Männer von Prydain und die Männer von Erin kämpften gegeneinander bis zum Einbruch der Nacht.«
»Das klingt wie bei den Nibelungen«, meinte Gunhild. Sie kannte die alte Sage gut. »Nur, da war es Hagen, der den kleinen Sohn Kriemhilds tötete und den Streit in die Halle brachte, bei dem alle starben.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Taliessin. »Aber es mag sein, dass die großen Geschichten allesamt auf die eine oder andere Weise gleich sind. Willst du mich jetzt diese Geschichte zu Ende erzählen lassen?«
»Ja, sicher, erzähl«, sagte Gunhild und gähnte.
»Das Volk von Erin aber besaß unter seinen Schätzen einen wundersamen Kessel, und wenn man ihn erhitzte und die Leiber der Toten hineinwarf, dann waren sie am nächsten Tag so gut wie neu, wenn auch taub und stumm. Und so geschah es in der ersten Nacht, und am nächsten Tag kämpften sie wieder gegeneinander, und die Männer von Prydain hielten das Feld, wenngleich viele starben und es, außer Brân, keinen unter ihnen gab, der nicht verwundet war.
Da wurde Evnissyen von Reue ergriffen, und er sagte zu sich: ݆bel
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