Die Kinder von Avalon (German Edition)
lange, geschwungene Linien; jeder dieser Bögen, oft nur fingerbreit voneinander entfernt, stellte das Tagwerk eines Hauers dar. Hagens Finger strichen die Wände hoch bis zu der Decke, die sich eine Handbreit über seinem Kopf befand. Keine Spuren von Lampenruß, stellte er fest. Wer immer diesen Gang gehauen hatte, musste entweder bei diesem matten Dämmerschein oder, noch unvorstellbarer, in völliger Dunkelheit gearbeitet haben. Und dies stundenlang, Schicht um Schicht …
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Oder hatte er sich getäuscht? In der Düsternis war keine Bewegung zu erkennen.
»Hallo?«, rief er versuchsweise. »Ist da jemand?«
Keine Antwort. Nur ein Echo, das in der Ferne von dem klammen Nebel verschluckt wurde. Oder war es eine andere Stimme, die da antwortete? Es war unmöglich zu sagen.
Hier stehen bleiben konnte er jedenfalls nicht.
Mit den Fingerspitzen der linken Hand an der Felswand entlangtastend folgte Hagen den engen Gang. Er konnte immer noch ein wenig sehen, wofür er dankbar war, aber allmählich ließ selbst der vage Dämmerschein merklich nach. Hagen war einmal in seinem Leben in ein Kohlenbergwerk eingefahren, als Teil eines Schulprojekts, unter Führung eines Bergwerksingenieurs. Dort hatten sie eine aufgegebene Sohle erkundet. Damals hatten sie Grubenlampen gehabt, als sie durch die Stollen gekrochen waren. Auf einer Strecke hatte ihr Führer sie angewiesen, das Geleucht, wie er es nannte, auszuschalten. Dann hatte absolute Dunkelheit geherrscht. Wirkliche Dunkelheit. Es ist unglaublich, wie finster es sein kann, wenn es kein Licht gibt, nicht einmal das diffuse Streulicht der Atmosphäre, in dem sich der ferne Glanz der Sterne spiegelt. Einer von seinen Kameraden hatte angefangen zu schreien; sie hatten ihn zu zweit wieder beruhigen müssen. Er war noch immer ganz blass gewesen unter dem Kohlenstaub, als sie wieder ans Tageslicht kamen.
Hagen hatte die Dunkelheit nichts ausgemacht. Vielmehr hatte er entdeckt, dass andere Sinne die Aufgabe der Augen übernehmen, wenn es keine Sicht gibt. Das Gefühl der Luft, die über die Haut streicht. Das Ertasten von Kälte und Wärme, von rauen und glatten Flächen. Der Geruch von Trockenem und Feuchtem, von Mineralien und Staubteilchen. Das Echo kaum wahrnehmbarer Geräusche, die zurückgeworfen werden oder ins Leere gehen.
Hagen schloss die Augen. Wenn seine Berechnungen stimmten, musste er sich tief unter der Meeresoberfläche befinden, aber von Feuchtigkeit fand sich keine Spur. Er fragte sich, wie dieser Schacht, in dem er sich befand, wohl mit Frischluft versorgt wurde, doch es gab keine Bewegung in der Luft, nichts.
Sein Fuß stieß an ein Hindernis, und er wäre fast gefallen. Im letzten Moment konnte er sich mit dem Speer abstützen. Es war schwer, überhaupt noch etwas zu erkennen, doch seine Finger bestätigten ihm, was das Auge vermutete: Vor ihm waren Stufen. Tief und flach, aus dem Fels gehauen wie der ganze Gang, führten sie nach oben. Er folgte ihnen mit tastenden Schritten, immer darauf bedacht, nicht zu stolpern. Jetzt sah er gar nichts mehr. Wie ein Blinder mit einem Stock tappte er mit dem Speer vor sich auf den Boden.
Dann war der Gang plötzlich zu Ende. Das Ende des Speers stieß auf etwas, das nicht Stein war. Ein trockenes, dumpfes Geräusch. Hagens Finger ertasteten Holz. Eine Tür. Er versuchte sie aufzudrücken, aber sie gab keinen Fingerbreit nach. Mit den Händen erkundete er ihre Ausmaße und stellte fest, dass sie fast den ganzen Gang ausfüllte. Und er fand noch etwas anderes.
Ein schwerer, massiver Riegel versperrte die Tür. Hagen versuchte, daran zu ziehen, aber das kalte Eisen gab keinen Millimeter nach. Vermutlich total verrostet, sagte er sich. Er versuchte es noch einmal. Seine Finger protestierten gegen die Belastung, aber er gab nicht auf. Beide Hände um den vorspringenden Griff gelegt, den Fuß gegen die Seitenwand gestemmt, spannte er seine Muskeln bis zum Äußersten.
Er spürte, wie seine Finger nachgaben. Er spürte es schon, bevor sie es taten. Er wusste, er hatte verloren.
»Aua!«
Hart prallte er gegen die Wand und rutschte daran hinab. Er schmeckte Blut an seinen Händen. Sie taten höllisch weh; wahrscheinlich hatte er sich die Haut aufgeschürft. Wenn er doch nur etwas sehen könnte!
Ein irres Lachen stieg in ihm auf. Da lag er nun, in der Finsternis, in einem geschlossenen Gang – und der Riegel, der ihm den Weg nach draußen versperrte, war von innen angebracht!
Er
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