Die Kinder von Avalon (German Edition)
hörte auf zu lachen. War da nicht ein Geräusch gewesen?
Seine hypernervösen, geschärften Sinne lauschten in die Finsternis. Da, ein Laut in der Stille. Das Echo eines Schreis. Ein Heulen im Wind, wie von einer verlorenen Seele. Ein Rieseln von Wasser, ein Knacken und Bersten im Gestein, und plötzlich wusste er genau: Sie würden hervorbrechen, aus den Wänden, aus der Decke, aus dem Boden; würden ihre kahlen Knochenfinger nach ihm ausstrecken, ihre kalten Leiber an ihn drängen, ihn hinabziehen in ihr ewig dunkles Reich …
Die Geister der Toten. So hatte der Piskey gesagt …
Panik schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte schreien, aber er brachte keinen Laut hervor. Das Blut pochte ihm in den Schläfen, dröhnte lauter als alles andere in dem engen Gang.
Gib auf, sagte eine Stimme in seinem Inneren. Du kannst nichts ausrichten. Du bist am Ende.
Den Körper vornübergekrümmt, versuchte er vergeblich, seine Lungen mit Luft zu füllen.
Setz dich einfach hin. Warte. Bis die Luft versiegt. Ein Grab. Ewig.
Es waren Worte, bestechend in ihrer Einfachheit. Die Stimme eines Flüsterers in der Finsternis. Oh, er kannte diese Stimme! Er hatte sie schon öfter gehört, in den dunklen Augenblicken, wenn er verzweifelt war. Er hatte sie verstummt geglaubt, aber sie war immer noch da.
Das Dunkel ist in dir …
Er hatte sich geschworen, nie wieder dieser Stimme zu lauschen. Aber würde dies reichen?
Was würde Siggi in dieser Situation tun, fragte er sich. Sicher würde er nicht einfach herumsitzen. Er würde einen Weg finden …
Du bist nicht Siggi …
»Genug!« Er richtete sich auf die Knie auf. Wenn er mit brutaler Kraft nicht zurande kam, dann musste er es eben anders versuchen.
Er hatte seinen Speer fallen lassen. Auf dem Boden tastete er danach. Wieder stieg Panik in ihm hoch, als er ihn nirgendwo finden konnte, aber er kämpfte sie nieder. Nur Geduld, sagte er sich. Er dehnte seine Suche aus in den Teil des Ganges, aus dem er gekommen war. Dann schlossen sich seine Hände um den kühlen, glatten Schaft.
Kraft mal Kraftarm gleich Last mal Lastarm. Das war die Magie der Physik, die überall wirkte. Er musste nur einen festen Punkt finden, dann würde er auch diese Welt aus den Angeln heben.
Er stieß das Ende des Speeres in den Winkel zwischen Tür und Seitenwand und klemmte den Schaft gegen den Griff des Riegels. Einen Augenblick zögerte er noch. War das nicht Wahnsinn, genau wie alles, was er vorher getan hatte? Holz gegen Eisen, wie konnte das gut gehen? Dann stemmte er sich mit aller Kraft gegen den Speer.
Lautlos, wie geölt, glitt der Riegel aus seiner Halterung, und die Tür tat sich auf.
Das Licht war so grell, dass es ihn blendete. Seine Pupillen, an die Dunkelheit gewöhnt, konnten sich nicht so schnell umstellen. Zwischen zusammengekniffenen Lidern spähte er in den Raum.
Er befand sich in einer Kaverne, einer künstlich angelegten oder erweiterten Höhlenkammer. Wie in der Halle Brâns war auch hier der Raum aus dem Gestein herausgehauen worden. Aber er war nicht mit Marmor verkleidet, sondern auf allen Seiten trat der nackte Fels zutage. In der Mitte des Gewölbes führte ein schmaler Abzugsschacht nach oben, durch den ein ferner fahler Lichtschein herunterdrang. Es musste schon Tag sein oder zumindest Morgen.
Das einzige andere Licht kam von einer Art Laterne, die in der Mitte des Raumes auf dem Boden stand. In ihrem Schein erkannte er eine weitere Tür, einen Durchgang, der dem Gang, aus dem er gekommen war, genau gegenüber lag. Sonst war der Raum leer.
Das heißt, nicht ganz. In einer Seitennische stand ein steinerner Block, vielleicht sechs Fuß breit und zwei Fuß hoch. Es war nicht zu erkennen, ob man ihn dorthin geschafft hatte oder ob er direkt aus dem Stein herausgemeißelt worden war. Er sah aus wie ein Altar, und die beiden Stufen, die zu ihm hochführten, und die halbrunde Apsis, die ihn einfasste, trugen noch zu diesem Eindruck bei. Doch als Hagen verwundert und neugierig zugleich darauf zutrat und sein Schatten über die Nische strich, erkannte er rasch seinen Irrtum.
Es war ein Sarg. Der steinerne Deckel war weggeschoben und lehnte dahinter an der Wand. Der Sarg war schmucklos bis auf ein einzelnes gemeißeltes Ornament an seiner Vorderseite: ein dreifach verschlungenes, in sich geschlossenes Band ohne Anfang und Ende.
Und er war nicht leer.
In dem Sarg lag das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte.
Sie lag da, in Decken gehüllt, als schliefe sie. Doch ihr
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