Die Kinder von Avalon (German Edition)
träumten sie alle dasselbe:
Sie glitten hinweg über ein Land, das in der Tiefe des Meeres verborgen lag. Berge und Täler waren da, Wälder und Ebenen, schimmernde Städte mit Häusern, Straßen und Palästen, unversehrt und neu wie in den Tagen ihrer Blüte: eine schlafende Welt, die auf etwas zu warten schien. Doch gab es nirgendwo einen Menschen zu sehen, niemanden, der diese ganze glitzernde Pracht mit Leben erfüllte. Nur Schulen von Fischen blitzten auf zwischen den versunkenen Türmen, huschten zwischen Säulen umher und durch die verlassenen Gassen und über die stummen, leeren Plätze, die im kalten Mondlicht lagen, welches gefiltert durch das tiefe Wasser zu ihnen hinabdrang …
»Land! Land in Sicht!«
Der Ruf ließ Gunhild aus der Tiefe emportauchen wie einen Schwimmer, der nach langem Gleiten unter Wasser wieder die Oberfläche durchbricht.
Sie rieb sich die Augen. Hagen, der neben ihr lag und den Arm um sie gelegt hatte, war ebenfalls schon wach. Als sie sich aufrichtete, zog er seinen Arm zurück und sog scharf die Luft ein.
»W-was ist?«
»Stecknadeln«, stellte er fest, und als sie ihn verständnislos ansah: »Er ist mir eingeschlafen. Aber ich wollte dich nicht wecken.«
»Oh, du Lieber …« Sie streichelte ihm die Wange.
»Land!«, schrie Siggi vom Bug her. »Hört auf zu turteln, ihr Schlafmützen, und seht selbst!«
Backbord voraus schwamm eine Insel. Anders ließ es sich nicht ausdrücken. Wie auf einem Kissen aus Nebel trieb sie dahin. An ihrem Saum leuchteten weiße Strände, darüber erhoben sich gerundete Kuppen, auf denen kein einziger Baum wuchs.
Hagen wollte aufstehen, sich immer noch den Arm reibend. Das Boot schwankte, sodass er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Gedankenschnell griff er nach dem Mast, um Halt zu suchen. »Eine Hand fürs Schiff, eine Hand für dich«, murmelte er.
»Was?«, fragte Gunhild.
»Oh, nichts …« Er wollte ihr nicht sagen, dass dies schon wieder etwas war, das er von seinem Vater gelernt hatte. »Sind wir schon am Ziel?«, rief er, an den Alten im Heck gewandt.
Aneirin saß da, als hätte er sich die ganze Nacht nicht von der Stelle bewegt – was sogar zutreffen mochte. Der Schatten des breiten Hutes fiel über sein Gesicht, sodass sein rechtes Auge im Schatten lag, sein linkes im Licht. So betrachtet, hatte er eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem grauen Gott Odin, die Gunhild nicht entging.
Aber die alten Götter waren tot … Oder auch nicht.
»Noch nicht ganz«, antwortete er auf Hagens Frage. »Die Strömung führt nicht auf direktem Weg zum Ziel, sondern in einer Spirale. Sie hat uns an der Hauptinsel vorbeigetrieben. Nun nähern wir uns den Inseln von Südwesten her. So wie einst Brân und seine Gefährten.«
»Und welche Insel ist dies?«
»Schaut selbst!«, war die Antwort. »Was seht ihr?«
In diesem Augenblick riss der Nebel auf, und sie sahen jenseits des Strandes einen Hügel, grasbewachsen, darauf weiß zwei aufrecht stehende Steine.
Gunhild war die Einzige, die dies zu deuten wusste. »Das Grab Branwens. Dann ist dies die Insel, wo sie an Land ging …«
»… mit ihrer Tochter, ja. Die eine zum Sterben, die andere, um zu leben. Von der Ynis Branwen ist es nicht mehr weit bis zur Ynis Avallach, vielleicht noch eine Stunde Fahrt. Setzt die Segel!«
Das Segeln war hier leichter, da der Wind inzwischen auf Westsüdwest gedreht hatte. Zwar war die Strömung hier zwischen den Inseln merklich schwächer, aber vor dem achterlichen Wind machten sie gute Fahrt.
Dabei sahen sie die große Insel, in deren weite Buch sie einfuhren, aus den verschiedensten Blickwinkeln. Allgegenwärtig war die Schönheit der Natur. Wohin man blickte: Wasser, Felsen, Sand, Licht, Wind und Wetter – und jede Menge Himmel. Im Norden erstreckte sich weites, flaches Land, nur hier und da von einigen Hügeln markiert, gekrönt von gerundetem Granit. Im Osten lagen ausgedehnte Watten, in denen Vögel staksten: eine Art plumper Kormorane, die sich mit erstaunlichem Geschick ihr Futter fischten. Dahinter erstreckte sich eine sumpfige Tiefebene, und weiter in der Ferne konnte man, bläulich schimmernd unter der blendenden Sonne, ausgedehnte Wälder erahnen, welche sich nach Süden zu einem Höhenzug aufschwangen. Es war die höchste Erhebung, so weit das Auge reichte. Dort, zwischen einem großen und einem kleineren Hügel, bahnte sich ein Fluss seinen Weg zum Meer.
»Da müssen wir hin«, rief Aneirin. »Zur Mündung und den Fluss hinauf. Aber
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