Die Kinder von Avalon (German Edition)
Meißeln an den Wänden, aber es war nichts zu erkennen. Dieser Spalt war, wie es schien, natürlichen Ursprungs, entstanden durch eine Verwerfung im Fels, als die Berge sich formten. Wie hoch er war, ließ sich nicht sagen, da sich die Decke in den Schatten verlor. So kam man sich vor wie eingeklemmt zwischen zwei Wänden, die sich zwar seit Tausenden von Jahren keinen Fingerbreit bewegt haben mochten, aber sich dennoch im nächsten Augenblick wieder zusammenschieben könnten, um das kleine, wimmelnde Gewürm auf ihrem Grund zu zerquetschen.
Der Weg, obwohl er nur ein paar hundert Schritte messen mochte, schien kein Ende zu nehmen. Als sie die letzten Meter zurücklegten, schlug das Herz aller wieder schneller.
Die Sonne war schon aufgegangen. Da der unterirdische Weg in gerader Linie von Westen nach Osten geführt hatte, stand sie ihnen jetzt direkt ins Gesicht. Siggi kniff die Augen zusammen. Der Eingang zum Schacht war eingerahmt von zwei hohen, verwitterten Steinen, die mit Kreisen und Spiralen geschmückt waren; sie mussten uralt sein. Vielleicht hatten die Menschen einst diesen Ort als ein Heiligtum verehrt.
Von dort aus führte der Weg weiter durch ein Tal, das in einer tiefen Schlucht endete, umgeben von waldbedeckten Hügeln. Eichen, Buchen, Hasel und Ahorn wuchsen dort und Ebereschen und Weißdorn in den raueren Lagen des Schiefers. Blaue Blumenglöckchen und weiße Blütensterne lugten zwischen Farn und Ginster hervor und bedeckten die Hänge.
Doch Siggi hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Seine Augen hingen gebannt an dem, was auf dem Grund des Tales lag.
»Das ist ja unglaublich!«, stieß Hagen, der neben ihn getreten war, hervor.
»Das ist der absolute Wahnsinn«, sagte Siggi.
»Was ist denn los?« Gunhild drängelte von hinten. »Lasst mich doch mal vorbei!«
Die beiden traten zur Seite, und dann sah sie es auch. Ihr blieb der Mund offen stehen.
Auf dem Boden des Tales lag ein Gerippe. Nicht das Skelett eines Menschen, nein, auch nicht das Knochengerüst eines größeren Tieres, etwa eines Rindes, das den Wölfen zum Opfer gefallen war. Nein, dieses Gebein war älteren Ursprungs. Und weit größer. Doppelt so hoch wie der Scheitel eines ausgewachsenen Mannes wölbten sich die gebleichten Rippen. Das gezackte Rückgrat glich dem First einer Kathedrale. Der mächtige, stachelbewehrte Schwanz lag zerstreut wie die Säulentrommeln eines umgestürzten Tempels. Und allein der mächtige Schädel mit seiner langen, hornstarrenden Schnauze wäre die Zierde eines jeden Museums gewesen. Doch in keiner naturkundlichen Sammlung hatte es je ein Ausstellungsstück dieser Gattung gegeben. Denn anders als die gigantischen Dinosaurier des Jura und der Kreidezeit war dieses Wesen im Plan der Natur niemals vorgesehen gewesen. Es war allein ein Geschöpf der Legende.
Sie blickten auf das Skelett eines Drachen.
Wie im Traum ging Siggi weiter. Mit jedem Schritt, den er tat, senkte sich der Weg; zugleich wuchs das fantastische Gerippe immer höher und mächtiger vor ihm empor. Doch dies war keine virtuelle Animation aus dem Computer, so unglaublich dieses Gebilde erscheinen mochte; im Hier und Jetzt, in dem er sich befand, war es greifbare Wirklichkeit.
Einen winzigen Moment nur zögerte er, ehe er die Hand auf den gewölbten Schädel legte. Der Knochen war verwittert wie Stein und rau und kalt unter seinen Fingern. Die leeren Augenhöhlen lagen umschattet. Was mochte wohl hinter dieser hohen Stirn einst vorgegangen sein?
»Ob der denken konnte?«, brachte Gunhild seine Überlegungen zum Ausdruck.
»Bestimmt«, antwortete Siggi. »Denk nur an den Drachen, den Siegfried besiegt hat. Der konnte sogar reden.«
»Was meint denn Merlin dazu?«
Sie blickte sich nach dem Alten um, ihrem Experten in Sachen Fabelwesen, aber der stand immer noch am Ausgang der Höhle und blinzelte kurzatmig und ein wenig eulenhaft ins Tageslicht.
»He, ich weiß sogar, was er sagen würde, wenn er noch am Leben wäre«, meinte Hagen.
»Ach ja?«
»Menschen! Frühstück!«
»Jungs!«, seufzte Gunhild. »Denken immer nur an das eine.« Sie grinste. »Ans Essen.«
Aber irgendwie war ihnen nicht so recht nach Geplänkel, und die Scherze kamen ein wenig halbherzig. Hagen stocherte zwischen den Knochen im Boden herum.
»Sieh mal«, sagte er, »da sind noch Reste vom Panzer.« Er bückte sich und brach ein Stück los, das halb im Boden vergraben gelegen hatte. Es zerschieferte unter seinen Fingern. »Ganz weiß, wie
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