Die Kinder von Avalon (German Edition)
Keiner rührte sich.
»Der Drachenweg!«
Orddu hatte es ausgesprochen.
»O nein, Gwion, mein Kleiner!«, rief Orwen aus. »Du willst doch nicht schon wieder mit Drachen spielen. Es ist viel zu gefährlich. Weißt du noch, letztes Mal …«
»Dann lass sie lieber hier, die Kleinen«, meinte Orgoch, »und ich koche eine schöne Suppe aus ihnen. Das ist immer noch besser, als sie dem Drachen vorzuwerfen. Er frisst sie«, mit einem Seitenblick auf Gunhild, die gerade die Suppenschale absetzte, »ohne Thymian. Und ohne Rosmarin.«
»Ihr seid drei dumme alte Weiber«, sagte Merlin. »Ich habe es einmal überlebt, ich werde vielleicht ein zweites Mal überleben. Im Übrigen habe ich Hilfe: diese jungen Menschen hier. Sie sind klug, und sie haben Mut. Und außerdem … ist es meine einzige Chance. Oder wisst ihr einen anderen Weg?«
Er war aufgestanden. »Es wird bald Tag. Wir müssen gehen.«
Gunhild hielt ihm die Holzschale hin. »Hier. Willst du nicht auch noch was essen, bevor wir aufbrechen.«
»Nein«, sagte er. »Ich habe schon einmal aus dem Kessel der drei gegessen. Es reicht für den Rest meines Lebens.« Er wies in den Hintergrund der Höhle. In dem ersten, fahlen Dämmerschein des heranbrechenden Tages sahen sie dort einen Durchgang aufscheinen: eine Treppe, die zum Land hinaufführte, welche vorher im Dunkeln keinem aufgefallen war.
»Gib mir das Auge!«, forderte Orddu. »Gib es her! Los, mach schon!«
Hastig fummelte Orgoch sich das Auge heraus. Ihre Hand zitterte, als sie es weiterreichen wollte. »Hier!«
»Wo? Wo?« Orddu griff um sich. Ihre fahrige Bewegung traf die Hand ihrer Schwester wie ein Schlag. Das Auge flog in hohem Bogen heraus, mitten in das aufflackernde Feuer …
… und zerplatzte.
»Nein!!!«
Ein dreifacher Schrei, wie aus einer Kehle.
Hagen war herbeigesprungen. Mit der Spitze des Speers versuchte er das Auge aus den Flammen zu retten. Aber zu spät. Die glänzende marmorne Kugel war nur noch ein verdrehtes und verbranntes Stück Fleisch – oder aus welcher unbekannten Substanz auch immer sie bestanden haben mochte.
Die drei Schwestern saßen da wie erstarrt, zusammengekauert am Rande der Felswand. In ihren schwarzen Kleidern, bei dem dämmrigen Schein, den das heruntergebrannte Feuer an die Wände warf, schienen ihre Gestalten zu einer einzigen zu verschmelzen. Sie saßen und starrten aus blicklosen Augenhöhlen in die ersterbende Glut.
»Was sollen wir jetzt mit ihnen machen?«, fragte Siggi. »Wir können sie doch nicht einfach so hier lassen.«
»Hast du schon vergessen, dass sie uns braten wollten?«, knurrte Hagen. »Vielleicht ist das jetzt die gerechte Strafe.« Die Alten im Schatten regten sich nicht.
»Wir haben von ihnen zu essen bekommen«, erinnerte ihn Gunhild. »Wir können sie nicht einfach verhungern lassen.«
Sie wandten sich zu Merlin um, doch der stand nur da und sagte nichts, als könne er die Tragweite des Geschehens selbst nicht begreifen.
Siggi holte tief Luft. »Wir kommen wieder«, sagte er dann, »wenn wir können. Und dann bringen wir auch was zu essen mit. Aber auf Dauer«, fügte er hinzu, »wird das wohl nicht reichen. Da müsst ihr euch dann schon selber etwas einfallen lassen.«
Aus den Schatten der Höhle wurde ihm Antwort zuteil. Er konnte nicht sehen, wer sprach. Er konnte sie nur an den Stimmen unterscheiden, und es schien ihm, als sprächen sie nicht mit ihm, sondern mit sich selbst, in einem Raum, der fern und entlegen und für Menschen unerreichbar war.
»Er hat ein freundliches Herz, der Kleine.« Das war Orwens Stimme.
»Und gerecht ist er außerdem«, gurgelte Orgoch. »Wie Arthur.«
Orddu aber sagte: »Die Sorge der Menschenkinder rührt mich. Aber es ist nun zu Ende. Dies war das Letzte, was wir noch zu tun hatten. Sobald der Topf leer ist, werden wir gehen. Dorthin, wohin uns keiner folgen kann. An den Ort, wo wir Ruhe finden …«
Merlin räusperte sich. »Ich glaube, es ist Zeit, dass auch wir weitergehen.«
Dies war der letzte Anblick, der sich ihnen bot, ehe sie sich umwandten und die Höhle verließen: Eine schwarz gekleidete Gestalt hockt am Feuer. Eine Hand rührt den Kessel. Eine Schüssel wird in die Suppe getaucht. Ein zahnloser Mund schmatzt. Ein faltiges Gesicht lächelt.
8.
Der Drachenweg
Je weiter sie die enge, steile Stiege emporgingen, desto heller wurde es vor ihnen. Der Gang war schnurgerade, wie mit einem Messer in den Felsen geschnitten. Siggi, der als Erster ging, suchte nach Spuren von
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