Die Kinder von Avalon (German Edition)
Himmel, wenn eine Wolke sich vor die Sonne schiebt.
Merlin? Nein, obgleich artverwandt mit ihm, zeigt das Antlitz dieses Mannes andere Züge. Es ist alt und ewig jung zugleich. Der Wind des Ozeans hat tiefe Furchen in dieses Gesicht gegraben, die Sonne seine Haut gegerbt. Frost versilbert die Spitzen seines Bartes und die buschigen Brauen, legt sich als ein Schimmer um Schläfen und Nacken. Und dennoch hat das Alter nie dieses Antlitz berührt. Uralt allein ist die Weisheit, die sich in den Augen spiegelt.
»Dieses Schwert ist nur ein Zeichen«, sagt die Stimme des Mannes, tief wie das Meer, »bis du eines Tages das wahre Schwert des Königtums erlangst: Excalibur, das an einem Ort jenseits der Welt auf dich wartet, dem Ort des Grals .«
Der Junge begreift nicht, was er hört. Er sieht nur das Schwert im Stein, spürt das harte, feste Heft in seiner Hand. Mit einer einzigen fließenden Bewegung reißt er die Klinge heraus. Das blanke Metall blitzt im Sonnenlicht …
»Pass auf, Siggi!«
Siggi blinzelte verstört. Fast wäre er gefallen. Gunhild hatte ihn am Arm gepackt.
»Du musst gucken, wo du gehst! Es ist glitschig hier.«
Sie hatten den ersten Teil des Wegs hinter sich, der noch mit Steinen befestigt gewesen war. Das, was vor ihnen lag, war nur eine Art Knüppeldamm, mit halb verrottetem Holz bedeckt, das an Pfählen im Boden verankert war.
»Weiter!«, drängte Hagen. Er hatte seinen Speer unter den Arm geklemmt, fast, als traute er sich nicht, ihn in diesem Schlick als Stütze zu benutzen, weil der saugende Grund ihm den Schaft aus der Hand reißen könnte, um ihn zu verschlingen. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur mehr Erfahrung mit solchen Wattwanderungen als sie. »Geh voran!«
»Ja, ja, ich mach ja schon …«
Siggi balancierte auf den Knüppeldamm hinaus. Der Boden war so glatt und der Untergrund so trügerisch, dass man wirklich auf jeden Schritt achten musste. Er warf einen Blick nach vorn. Merlin ging mit festen, ungehinderten Schritten, langsam aber stetig. Die Insel voraus schien noch kein Stück näher gekommen zu sein, aber der kurze Blick hatte Siggi Einzelheiten erkennen lassen, wenn auch nicht viele: mit Bäumen bestandene Hänge, eine Krone, die ebenso ein felsiger Auswuchs wie eine Burg sein konnte. Er konzentrierte sich wieder auf seine unmittelbare Umgebung.
Wenn man nur auf seine eigenen Füße achtete, verschwamm der Rest des Blickfeldes. Dennoch hatte Siggi das Gefühl, als ob sich irgendetwas um ihn bewegte. Er sah es nur aus den Augenwinkeln, und jedes Mal, wenn er es wagte, einen Blick zur Seite zu werfen, war da nichts mehr. Aber war nicht die Flut schon ein wenig höher gestiegen? Waren die wasserbedeckten Flächen, in denen sich der Himmel spiegelte, nicht größer als zuvor? Oder bildete er sich das alles nur ein?
Er warf einen Blick nach vorn. Auch die Brandung, die den Fuß der Insel umspülte, erschien ihm näher als zuvor. Er hätte schwören können, dass die Grenze zwischen Watt und offenem Meer vorhin, als er vom Strand aus hinausgeblickt hatte, noch jenseits der Insel gelegen hatte. Jetzt sah er die Schaumkronen schon um die vorgelagerten Felsen aufspritzen.
Schneller! Er begann jetzt zu laufen. Der Knüppeldamm platschte hohl unter seinen Gummisohlen. Der Umhang, den er aus Brâns Höhle mitgebracht hatte, behinderte ihn beim Rennen. Der Wind zerrte daran, Schlamm und Feuchtigkeit beschwerten seinen Saum. Sollte er ihn einfach wegwerfen? Wenn es kalt wurde, würde der Mantel ihm noch gute Dienste leisten. Aber wenn er hier im schlammigen Watt versank, dann half ihm der Umhang auch nicht mehr. Wogen die Vorteile die Nachteile auf? Er wunderte sich über sich selbst, dass er dies alles so kühl und vernünftig durchdachte. Aber es war ein Denken, das aus Panik geboren wurde.
Er nestelte an der Fibel, mit der er den Mantel über der Brust festgesteckt hatte. Es war ein Verschluss, mit dem er nicht vertraut war, und er fand keinen richtigen Anfang. Irritiert blickte er darauf – und geriet ins Rutschen.
Es war eigentlich unvermeidlich gewesen. Die Holzstämme, aus denen der Weg bestand, waren glatt poliert von der Flut und glitschig vom Schlick. Er sah den Boden auf sich zukommen, und hatte nicht einmal mehr Zeit, sich mit den Händen abzufangen. In voller Länge klatschte er in den Morast.
Verdammt! Der einzige Gedanke, der ihn beherrschte, war Zorn über sein eigenes Ungeschick. Er wischte sich den Schlamm aus den Augen. Das Erste, was er sah, war eine
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