Die Kinder von Avalon (German Edition)
Wasserfläche, zu beträchtlicher Größe angeschwollen. Aus der Tiefe starrte ihm ein fremdes Gesicht entgegen.
Siggi schrie.
Hagen war bei ihm, platschte ins Wasser. Die Oberfläche des Siels zerriss in tausend Wellen.
»Da! Da war was! Da unten, ich hab es gesehen!«
Hagen stieß mit dem Speer nach. Der Speer traf eine Handbreit unter der Wasseroberfläche auf Grund. Hagen hatte Mühe, die Spitze wieder aus dem Schlick zu befreien.
»Du hast nur dein eigenes Schlammgesicht gesehen«, sagte er. »Jetzt komm, steh auf.«
»Nein«, beharrte Siggi, während er sich aufrappelte. Seine Kleider waren schlammverschmiert. »Das war … was anderes.« Er sah die Gesichtszüge genau vor sich: den vorspringenden Kiefer, die fliehende Nase, die abgeplattete Stirn, Ohren wie die eines Bären. »Das war so was wie … ein Neandertaler. Mit Haaren wie Seetang. Und Schuppen. Und Kiemen!«
»Du hast eine Selkie gesehen.« Merlin war stehen geblieben. »Sie sind harmlos. Und dumm. Kümmere dich nicht um sie. Wir müssen weiter.«
Aber Siggi stand da und starrte auf etwas, das er in seiner Hand hielt. Es sah aus wie ein länglich geformter Stein. Seine Hand hatte sich unwillkürlich darum geschlossen, als er in den Matsch gefallen war. Ein merkwürdiger Stein, dachte er, mit Mustern darauf und Löchern darin wie –
»Eine Flöte!«, sagte er staunend. »Ich habe eine Flöte gefunden.«
»Das kannst du dir später angucken«, meinte Gunhild, die zu ihnen aufgeschlossen hatte. Ihre nackten Füße waren schlammbespritzt bis zu den Knien, und der Saum ihres Kleides triefte.
Siggi machte ihr Platz. »Ich komm schon«, sagte er, während er sich bückte, um die Flöte im Wasser auszuspülen. Seltsame Ritzzeichnungen bedeckten die Oberfläche, ein Muster aus feinen Punkten und Linien.
Das ist schön, dachte Siggi. Er hatte immer noch das Gesicht der Selkie vor Augen, die großen, ein wenig traurig wirkenden Fischaugen unter den wulstigen Brauen. Harmlos, dachte er. Ein harmloses Geschöpf …
Sein Blick glitt über die Wasserfläche. Der Pegel stieg wirklich an. Plötzlich überkam ihn wieder die Angst. Er stand hier herum und machte sich Gedanken, während die Flut kam.
Dann sah er die keilförmigen Köpfe, die durch das Wasser schnitten, genau auf den Damm zu.
»He!«, rief er laut. »Schaut euch das an! Ist das etwa auch harmlos?«
Einen endlos scheinenden Augenblick lang geschah gar nichts. Dann kam von weiter voraus Merlins Stimme, abgehackt durch den Wind:
»Lauft …! Lauft … um euer Leben!«
Siggi rannte. Vor ihm rannten die anderen. Das Wasser spritzte um ihre Füße. Es war jetzt deutlich höher. Man sah schon fast die Hölzer des Dammes nicht mehr, nur noch die in den Schlick getriebenen Begrenzungspfähle rechts und links. Die Insel war näher gekommen, zweifellos; er erspähte das Ende des Wegs voraus. Aber nicht nah genug.
Nicht nah genug. Seine Füße hämmerten den Takt mit den Worten. Ein heller Schatten vor ihm. Gunhild! Sie konnte nicht mithalten, sie glitt aus. Gedankenschnell packte er zu, hielt sie fest.
»Lauf, Gunni, lauf!«
Hagen war bei ihnen, packte Gunhild, riss sie mit sich. Siggi versuchte, seinen Laufrhythmus wieder zu finden, aber das Wasser ging ihm jetzt schon bis zu den Knöcheln. Es war, als laufe er in tiefem Sand; jeder Schritt musste erneut den Widerstand überwinden, den die Trägheit der Masse ihm entgegensetzte. Seine Beine erlahmten, seine Füße waren entsetzlich schwer. Der Hall der nahen Brandung betäubte seine Ohren. Und in dem Donnern hörte er deutlich das Heulen der Hunde.
… Dylans geschuppte Hunde …
Er hatte die Worte Merlins immer noch im Ohr. Er hatte sie nie vergessen. Er würde sie nie vergessen, sein ganzes Leben. Und das würde jetzt nicht mehr lange sein.
Er taumelte und fiel.
Das Wasser dämpfte seinen Aufschlag. Er rollte sich herum, instinktiv, um nach Luft zu schnappen. Als ob es jetzt noch einen Unterschied machte.
Dann waren die Hunde über ihm. Er sah sie aus den Augenwinkeln: ihre kalt glühenden Augen, ihre gefächerten Ohren, ihre grausamen, nadelspitzen Fänge. Grüner Geifer troff von ihren Lefzen, spritzte ätzend auf seine Haut. Er hob die Arme vors Gesicht, um seine Augen zu schützen, auch wenn er wusste, dass dies keinen Unterschied mehr machen würde. Im nächsten Augenblick würden ihn die Fänge und Klauen zerfetzen.
In seiner Hand war die Flöte, die er im Watt gefunden hatte. Ohne sich etwas dabei zu denken, hielt er sie an die
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