Die Kinder von Avalon (German Edition)
Lippen und blies hinein.
Ein schriller, durchdringender Ton, der die Hunde für den Bruchteil einer Sekunde innehalten ließ.
Da brach es mit Gewalt aus dem flachen Wasser empor. Flossenhände krallten nach geschuppten Kehlen. Arme, fellbedeckt und glänzend, schossen aus der Tiefe. Unter dicken Fettschichten spannten sich mächtige Muskeln. Die Meerhunde jappten, dann jaulten sie würgend: ein unirdisches, nervenzerfetzendes Geräusch. Das Wasser schien zu kochen. In den brodelnden Fluten war Freund und Feind nicht mehr zu unterscheiden: da ein peitschender Fischschwanz, dort ein hündisches Geifern, hier ein menschliches – oder beinahe menschliches – Gesicht. Es war nicht nur ein Angreifer, nein es waren viele; von allen Seiten stürzten sie sich auf die Hunde. Blut färbte das Wasser. Der weiße Schaum wurde grün, dann rot. Tiefer wogte der Kampf. Ein letztes Aufbäumen, der Schlag einer mächtigen Flosse, dann zog es die Hunde des Meeres hinab in die wogende Flut, und wie ein Spuk war es vorbei.
»Siggiiiii!«
Das Letzte, was Siggi sah – oder zu sehen glaubte –, war das Gesicht der Selkie mit den großen traurigen Augen, das in der Tiefe verschwand.
»Siggi!«
Er lag allein im knietiefen Wasser, völlig durchnässt. Er war nicht einmal dazu gekommen, sein Schwert zu ziehen. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, obwohl er überhaupt nicht gekämpft hatte.
Mühsam erhob er sich. Hagen war zurückgewatet, um ihm zu helfen, hielt aber inne, als ihre Augen sich trafen.
»Was war das?«, fragte Hagen. »Was – oder wer?«
»Die Hunde Dylans«, sagte Siggi. »Merlin … der Alte … er kann dir mehr darüber erzählen.« Der Strand, stellte er fest, war höchstens zwanzig Meter entfernt. Fast wäre er in Sicherheit gewesen. Fast. Und doch hatte es nicht gereicht.
Er schlang seinen nassen Mantel über die Schulter, damit er nicht im Wasser schleifte, und setzte sich in Bewegung. Die Wellen rollten in stetiger Bewegung auf den Strand zu, jede höher als die nächste. Die Flut hatte eingesetzt. Es war Zeit, dass sie ins Trockene kamen.
Unter einem Steilhang erwarteten sie Gunhild und der Alte. Von der Abbruchkante nickten verkrüppelte Strandkiefern herab, gepeinigt von dem ewigen Wind. Doch hier, am Fuß der Klippe, wurde die Macht des Windes zu einem sanften Säuseln gebrochen.
Gunhild war gerade dabei, ihre Schuhe wieder anzuziehen. Hagen ließ sich neben ihr auf den Kies fallen und stöhnte. Der Alte stand nahe der Felswand, die Stiefel noch in der Hand. Unter der wettergegerbten Haut seines Gesichts war er bleich.
»So etwas«, sagte er, »habe ich in all den Jahren meines langen Lebens noch nicht gesehen. Und ich würde es nicht glauben, wenn man es mir erzählte.«
»Harmlos«, keuchte Siggi, noch immer kurzatmig von seiner Anstrengung. »Die harmlose Selkie … hat mich gerettet. Sie und ihre Artgenossen.«
»Aber warum?«
»Hiermit …« Er hob die Hand, doch sie war leer. Die Flöte war fort; er musste sie im Getümmel verloren haben. »Die Flöte, die ich gefunden hatte«, erklärte er. »Damit habe ich sie gerufen. Das heißt, ich wollte es gar nicht. Ich habe gar nicht mehr gewusst, was ich tat.«
»Es gibt da eine Legende«, sagte der Alte leise, »die man sich unter den Fischern von Gwynedd erzählte. Sie handelt von einem der Ihren, der bei Sturm in einem Wattenmeer strandete, wo nie ein Watt gewesen war. Er fand dort die Mauern einer Stadt, älter als selbst die ältesten Siedlungen der Altvorderenzeit. Eine Stadt, welche niemals von menschlichen Wesen erbaut worden war. Und als er sich völlig verirrt hatte, fand er in den Ruinen dieser Stadt eine Flöte. Er blies darauf, und die Selkies zeigten ihm den Weg zurück zu seinem Schiff. Er hat, so heißt es, noch oft in jenen Gewässern gefischt und immer einen reichen Fang gemacht. Aber die verfallene Stadt hat er nie wieder gesehen und die Selkies auch nicht.«
»Jedenfalls ist sie jetzt weg«, sagte Siggi, und als er merkte, dass dies ein wenig zusammenhanglos klang, fügte er hinzu: »Die Flöte, meine ich.« Und die Selkie auch, dachte er bei sich. Die Selkie mit den traurigen Augen …
»Vielleicht ist es gut so«, meinte der Alte. »Denn es bringt nur Unglück, wenn die Geschöpfe von Land und Meer sich verbinden.«
»Ich bin jedenfalls froh, dass du diesen Ungeheuern entkommen bist«, sagte Gunhild, die unbemerkt hinzugetreten war. »Was hätte ich sonst unseren Eltern erzählen sollen? Sorry, mein kleiner Bruder
Weitere Kostenlose Bücher