Die Kinder Von Eden : Roman
zwanzig Sekunden gedauert – und immerhin hätte jederzeit jemand hereinkommen können.
Damals hatte Ricky weder Furcht noch Scham noch Schuldbewußtsein empfunden. Allerdings hatte er seither Angst vor der Dunkelheit.
Aber in jener Zeit war es nur selten dunkel um ihn herum. In der Wohnung seiner Mutter brannte das Licht meist die ganze Nacht hindurch. Nur ab und zu kam es vor, daß er, zum Beispiel in einer Nacht zum Montag, wenn nicht viel los war und tatsächlich alle mal schliefen, kurz vor dem Morgengrauen erwachte. Waren dann sämtliche Lichter gelöscht, überkam ihn ein blindes, irrationales Entsetzen. Er torkelte durchs Zimmer, stolperte über irgendwelche bepelzten Wesen und stieß gegen unheimliche feuchtkalte Flächen, bis es ihm endlich gelang, den Lichtschalter zu finden. Danach saß er keuchend und schwitzend auf der Bettkante und brauchte eine ganze Weile, bis er seine Fassung wiedergewann: Die feuchtkalte Fläche war der Spiegel gewesen, das bepelzte Ungeheuer seine Jacke mit den Fellsäumen.
Erst als er Star gefunden hatte, verflog die Angst vor der Dunkelheit.
Ein Lied kam ihm in den Sinn, das in jenem Jahr, in dem er Star kennenlernte, ein großer Hit gewesen war, und er stimmte es an:
»Smoke on the water…«
Die Band hieß Deep Purple, fiel ihm ein, und das Album wurde in jenem Sommer ständig gespielt.
Ein tolles, apokalyptisches Lied, genau das richtige für den Fahrer eines seismischen Vibrators.
»Smoke on the water,
A fire in the sky …«
Der Lastwagen rauschte an der Abzweigung zur Müllkippe vorbei. Priest fuhr unverdrossen weiter gen Norden.
»Heute abend ist es soweit«, hatte Priest gesagt. »Wir teilen dem Gouverneur mit, daß er heute in vier Wochen mit einem Erdbeben rechnen muß.« ,
Star hegte so ihre Zweifel. »Wir wissen doch noch gar nicht, ob es überhaupt realisierbar ist. Vielleicht sollten wir zunächst alle Vorbereitungen treffen – und das Ultimatum erst stellen, wenn alles fix und fertig ist.«
»Nein, zum Teufel!« widersprach Priest. Stars Vorschlag ärgerte ihn. Er wußte, daß die Gruppe ebenso auf seine Führung angewiesen war wie er auf ihre bedingungslose Einsatzbereitschaft. Schließlich standen sie alle im Begriff, sich auf ein äußerst riskantes Hasardspiel einzulassen. Jeder mußte wissen, daß es kein Zurück mehr gab – andernfalls würden ihnen morgen schon wieder Bedenken kommen und mengenweise Ausreden für einen Rückzieher einfallen.
Im Augenblick waren sie alle Feuer und Flamme. Der Brief war heute erst eingetroffen, und alle hatte der Mut der Verzweiflung gepackt. Star legte finstere Entschlossenheit an den Tag; Melanie schäumte vor Wut; Oaktree hätte am liebsten der ganzen Welt den Krieg erklärt; bei Paul Beale kam schon wieder der alte Gangster durch, der er einst gewesen war. Song hatte zwar kaum ein Wort gesagt, doch da sie in der Gruppe die Rolle des hilflosen Kindes innehatte, würde sie wie immer mit den anderen mitziehen. Nur Aneth war gegen den Plan, doch da sie zur Nachgiebigkeit neigte, war ihre Opposition kaum ernst zu nehmen. Ihr fielen zwar immer rasch ein paar Einwände ein, doch wenn‘s darauf ankam, gab sie noch rascher klein bei.
Was Priest selbst betraf, so hatte er sich kalten Bluts klargemacht, daß er den Untergang der Siedlung nicht überleben würde.
»Aber bei einem Erdbeben kann es doch Tote geben«, wandte Aneth ein.
»Ich will euch sagen, wie die Sache laufen wird«, sagte Priest. »Zunächst mal, denke ich, müssen wir bloß irgendwo draußen in der Wüste ein kleines, harmloses Beben produzieren, sozusagen als Beweis dafür, daß wir überhaupt dazu imstande sind. Sobald wir dann mit einem weiteren Erdbeben drohen, wird sich der Gouverneur auf Verhandlungen mit uns einlassen.«
Aneth wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kind zu.
»Ich bin ganz deiner Meinung, Priest«, sagte Oaktree. »Raus mit der Warnung, gleich heute abend noch!« Star gab nach. »Und wie stellen wir das an?«
»Ein anonymer Anruf oder ein anonymer Brief genügt, schätze ich«, sagte Priest. »Hauptsache, er läßt sich nicht zurückverfolgen.«
»Wir könnten die Ankündigung auch über ein Internet Bulletin Board unter die Leute bringen. Wenn ich das mit meinem Laptop und dem Handy mache, bleibt es absolut anonym.«
Priest hatte vor Melanies Ankunft noch nie einen Computer gesehen. Jetzt warf er Paul Beale, der sich mit solchen Sachen auskannte, einen fragenden Blick zu. Paul nickte und sagte: »Gute
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