Die Kinder Von Eden : Roman
Strategie erwies sich als sehr clever und effektiv. Die Anwälte hatten die Glaubwürdigkeit der Zeugen erschüttert, die zwangsläufig selbst aus dem kriminellen Milieu stammten, und sie hatten die von Judy zusammengetragenen Beweisakten so ausgelegt, daß die Geschworenen jeden Durchblick verloren.
Inzwischen konnten weder Judy noch Don sagen, wie das Verfahren ausgehen würde.
Judy hatte einen besonderen Grund dafür, sich dieses Falles wegen Sorgen zu machen. Ihr direkter Vorgesetzter, der Leiter des Dezernats für Asiatische Bandenkriminalität, stand kurz vor der Pensionierung, und sie hatte sich um seine Stelle beworben. Der Chef des FBI-Büros von San Francisco, dessen genauer Titel »Special Agent in Charge« – Leitender Spezialagent – oder SAC lautete, würde, wie Judy wußte, ihre Bewerbung unterstützen. Aber sie hatte einen Rivalen: Marvin Hayes, ebenfalls Agent, ebenfalls aus ihrer Altersgruppe und mit ebenso hochfliegenden Zielen. Auch Marvin hatte einen einflußreichen Gönner: Sein bester Freund war der »Assistant Special Agent in Charge« oder ASAC, der für sämtliche Abteilungen verantwortlich war, die sich mit der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der Wirtschaftskriminalität beschäftigten.
Beförderungen wurden zwar von einer entsprechenden Kommission ausgesprochen, doch die Beurteilungen seitens des SAC und des ASAC fielen stark ins Gewicht. Wie es derzeit aussah, lagen die Konkurrenten Judy Maddox und Marvin Hayes ungefähr gleichauf.
Judy lechzte geradezu nach diesem Job. Sie wünschte sich einen raschen Aufstieg in der FBI-Hierarchie und strebte hoch hinaus. Sie war eine gute Agentin, würde eine hervorragende Dezernatsleiterin sein und eines Tages zur besten SAC avancieren, die das FBI jemals gehabt hatte. Sie war stolz auf »ihre«
Behörde, wußte aber auch genau, was sie daran verbessern wollte: So ging es unter anderem um die raschere Einführung neuer Methoden wie die Erstellung von psychologisch fundierten Täterprofilen sowie um einen rationelleren Führungsstil. Vor allem aber mußte das FBI Agenten vom Schlage eines Marvin Hayes loswerden.
Hayes entsprach dem klassischen Negativbild des »Bullen«: Er war faul, brutal und skrupellos. Er hatte nicht so viele Gangster hinter Schloß und Riegel gebracht wie Judy, konnte aber spektakulärere Verhaftungen vorweisen. Er wußte sich bei öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen glänzend in Szene zu setzen, zog sich aber schleunigst zurück, sobald er merkte, daß ein Fall den Bach runterging.
Außer Judy wohnten auch die meisten ihrer Mitarbeiter im Fall Fung der Gerichtsverhandlung bei: ihr Dezernatsleiter, die anderen Agentinnen und Agenten, ein Sprachwissenschaftler, die Sekretärin der Abteilung und zwei Beamte der Stadtpolizei von San Francisco. Zu ihrer Überraschung fehlten heute sowohl der SAC als auch der ASAC. Und da es sich um ein bedeutendes Verfahren handelte, dessen Ausgang für beide von großer Wichtigkeit war, beschlich Judy ein ungutes Gefühl. Lief da intern etwas ab, wovon sie nicht unterrichtet war? Sie beschloß, hinauszugehen und sich telefonisch zu erkundigen, doch sie kam nicht dazu; denn gerade als sie aufstehen wollte, betrat der Gerichtsdiener den Saal und kündigte die Rückkehr der Geschworenen an.
Einen Augenblick später erschien Don im Saal. Er roch nach Zigaretten. Nach ihrer Trennung hatte er wieder mit dem Rauchen angefangen. Aufmunternd drückte er Judys Schulter, und sie lächelte ihm zu. Er sah gut aus: Das kurze Haar war perfekt frisiert. Zum dunkelblauen Anzug trug er ein weißes Hemd und eine dunkelrote Armani-Krawatte. Aber es funkte nicht mehr zwischen ihnen. Der Reiz, sein Haar zu verstrubbeln, ihm die Krawatte abzunehmen und ihre Hand unter sein Hemd zu schieben, war gänzlich verflogen.
Die Verteidiger kehrten zurück, die Angeklagten wurden zur Anklagebank geführt, die Geschworenen betraten den Saal, und endlich tauchte auch der Richter aus seinem Zimmer auf und nahm seinen Platz wieder ein.
Judy drückte sich unter dem Tisch beide Daumen.
Der Gerichtsdiener erhob sich. »Meine Damen und Herren Geschworenen, sind Sie zu einem Urteil gelangt?«
Absolute Stille senkte sich über den Gerichtssaal. Judy merkte, daß sie vor lauter Aufregung unruhig mit dem Fuß auf den Boden tappte, und zwang sich, stillzusitzen.
Der Sprecher der Geschworenen, ein Ladenbesitzer chinesischer Abstammung, stand auf. Judy hatte stundenlang darüber nachgegrübelt, ob er wohl mit den
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