Die Kinder von Erin (German Edition)
wurde zum Sturm.
Komm, sagte die Stimme des Windes. Komm, lass dich einfach fallen. Und du wirst keine Sorgen mehr haben, keine Ängste, kein Verlangen. Sie kannte die Stimme. Es war die Stimme des grauen Gottes. Sie hatte gedacht, es sei vorbei, damals, als sie ihn sterben sah, in den Höhlen der Anderswelt ihrer Heimat. Doch er war immer noch bei ihr. Sie hatte in sein totes Auge geblickt, und seitdem war ein Teil von ihr immer in diesem Reich zwischen den Welten geblieben.
Gunhild, komm zu mir.
Sie wandte sich um. Sie musste sich entscheiden.
Vor ihr stand der rote Stier.
Seine Hörner waren spitz, gefährliche Waffen, die töten konnten. Seine Kraft war unbändig. Seine Hufe scharrten den Fels. Dunst stieg aus seinen Nüstern auf.
Doch sie hatte bereits ihre Entscheidung getroffen.
Als sie einen Schritt auf den roten Stier zutrat, spürte sie, wie feuchtes, warmes Blut ihre Schenkel hinunterrann.
Irgendwo im Süden flackerte ein Lagerfeuer unter dem Hauch des schwarzen Windes, flackerte und erlosch.
Der schwarze Wind fraß sich durch das Land, entlaubte Bäume und Sträucher, versengte das Gras, drang als Eiseskälte in die Erde.
Schattenfetzen jagten vor den Sternen dahin, hüllten die Welt in Dunkelheit. Preisgegeben auf der weiten Ebene duckten sich Menschen unter dem endlosen Himmel.
Oh, wenn ich nur aufwachen könnte aus diesem Traum!, dachte Siggi.
Du kannst, sagte der kleine dunkle Mann neben ihm, wenn du nur willst.
Und was wird aus ihnen? Er wies auf die geduckte Schar, die sich in der Senke, welche man das Feld der Grabsteine nannte, um das erloschene Feuer drängte.
Sie werden vergehen, wie alles vergeht.
Er sah das Flehen, die Bitte um Hilfe, um Verständnis in den Augen der Menschen.
»Kommt her«, sagte er laut. »Halten wir einander fest. Vielleicht können wir noch eine kleine Weile ausharren – und hoffen.«
Rings um Hagen starben seine Freunde.
Der Blick des Auges war allumfassend; schwarzen Nebeln gleich griff er nach ihnen, und sie erstarrten in der Bewegung, wie festgefroren, ehe die Kraft sie verließ und sie willenlos, leblos zu Boden sanken.
Alle bis auf ihn.
Sein Blick war auf die Klinge des Speeres geheftet, die einzig und allein zwischen ihm und dem unheilvollen Auge stand. Und in der spiegelnden Klinge sah er das Antlitz Cúchullins.
Es war rot. Rot wie glühendes Eisen. Rot wie die Sonne, wenn sie untergeht. Und wenn sie, neugeboren, am Morgen aus dem Meer emporsteigt.
Nur die Klinge des Speeres stand zwischen Hagen und dem Auge und er wusste genau, wenn er sie bewegte, würde der böse Blick ihn treffen und ihn vernichten, wie er seine Freunde vernichtet hatte.
Es gab nur eine Möglichkeit.
Hagen schloss die Augen, hob den Speer, drehte ihn, dass die Spitze nach vorn zeigte, und warf ihn mit aller Kraft.
In der Dunkelheit des Abgrunds erstrahlte ein helles Licht.
»Schau«, sagte der junge Oscar, als er von der Ebene der Grabsteine aufblickte. »Ein Stern!«
In der gläsernen Halle unter dem Meer klirrten die Kristalle. Ihr Beben setzte sich fort durch Pfeiler, Mauern und Gewölbe bis in die Grundfesten der Erde, wo es allmählich verebbte.
Es war vorbei. Hagen öffnete die Augen wieder. Der Speer steckte tief im Auge des Bösen. Das Auge war gebrochen. Schwarzes Blut rann den Pfeiler hinab.
Hagen blickte nicht nach rechts und links, wo seine Gefährten in seltsam verkrümmten Haltungen auf dem Boden lagen. Auch die einäugigen Feinde waren zurückgewichen. Einige von ihnen waren in die Knie gebrochen, als der Widerschein des Auges sie erfasst hatte; andere lagen auf dem Boden; wieder andere taumelten wie blind umher.
Hagen riss den Speer los.
Im Hintergrund des Raumes regte sich eine Gestalt. Hochgewachsen, in ein langes, fließendes Gewand gekleidet, dessen Farbe weder grau war noch grün, sondern irgendetwas von beidem, hatte sie dort stumm gewartet. Hagen trat auf sie zu. Er hob den Speer.
»Wo ist Gunhild?« Seine Stimme war rau. »Wohin habt ihr sie gebracht? Gebt sie heraus!«
»Sie ist nicht hier.« Die Stimme Manannán Mac Lirs war sanft wie der Wellenschlag, doch unnachgiebig wie die Brandung, die gegen die Küsten schlägt. »Du hast es doch gewusst, nicht wahr?«
»Wo ist sie?« Hagen hob den Speer.
Die Gestalt trat heraus aus den Schatten, und Hagen erstarrte. Denn er kannte das Gesicht des Mannes, der da vor ihm stand. Es war ihm vertraut wie sein eigenes, obwohl er es selten, viel zu selten gesehen hatte.
»Vater?«
Manannán
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