Die Kinder von Erin (German Edition)
unbeweglichen Fahne über dem Dach. Das Haus duckte sich förmlich in den Schutz des Waldes. Ob dieser Hof das Ziel ihrer Reise war?
Weiter, wie müssen noch viel weiter, gab ihm der Hund zu verstehen, als habe das Tier erraten, was er dachte.
Aber das überraschte den Jungen nicht mehr. Wenn das Tier ihm Gedanken senden konnte, so war es doch nur natürlich, wenn der Hund auch seine Gedanken empfing.
Als sie dem Fluss näher kamen, machte Hagen als Erstes die Furt aus, die der Wolfshund mit traumwandlerischer Sicherheit ansteuerte. Man konnte sehen, wie der Fluss sich an dieser Stelle weiß an den Steinen brach und versuchte, die lästige Barriere hinwegzuspülen, auf dass er seinen Weg zum Meer ungehindert fortsetzen konnte. Diese Stromschnelle machte es möglich, den recht breiten Fluss – er mochte fünfzig oder sechzig Meter durchmessen – an dieser Stelle zu überqueren.
Dann sah Hagen eine Gestalt am Ufer stehen. Ein Mensch, ging es ihm durch den Kopf. Der erste Mensch in diesem menschenleeren Land …
Es war eine Frau, die unterhalb der Furt damit beschäftigt war, Wäsche zu waschen. Sie schlug große weiße Tücher, wahrscheinlich Laken, auf einen Felsen und spülte sie dann in dem klaren, reinen Wasser des Flusses aus. Sie bewegte sich ganz natürlich, nicht so zeitlupenhaft wie der Vogel und die Herde und der Rauch über dem Haus. Aber sie sah kein einziges Mal von ihrer Arbeit auf.
Der Hund machte keine Anstalten, seinen Lauf zu verlangsamen. Er rannte in das Wasser hinein, als wisse er genau, was er tue. Und da Hagen sich dem Tier ohnehin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hatte, folgte er dessen Beispiel. Durch die Sohlen seiner Turnschuhe spürte er rundgewaschenen Kies, der ihm einen guten Halt bot. Das kalte Wasser spritzte um seine Knie und saugte sich in seine Jeans.
Sie mochten den Fluss zur Hälfte überquert haben, als Hagen trotz des lauten Platschens die Stimme der Wäscherin hörte. Zuerst glaubte er, die Stimme käme woanders her, da sie so gar nicht zu der äußeren Erscheinung passen wollte: Die Haltung, die Kleidung – ein schwarzes, zerlumptes Kleid mit einer langen Schürze und einem dunklen Kopftuch – und das ganzes Gehabe waren das einer alten Frau. Doch die Stimme war so klar und rein wie die eines jungen Mädchens.
»Himmel, Erde, Sonne, Mond und Meer,
Früchte der Erde und Seegetier,
Münder, Ohren, Augen, Besitztümer,
Füße, Hände, Zungen von Kriegern,
Rösser, Schwerter, schöne Streitwagen,
Speere, Schilde, Gesichter von Menschen,
Masten im Morgenwind, Tau auf Blättern,
Tag und Nacht, Ebbe und Flut …«
Es waren die verschiedensten Dinge, von denen sie sang, und doch ergaben sie eine Gesamtheit: das Bild von etwas, das größer war als die Summe seiner Teile. Erin, dachte er. Es ist das Land Erin, von dem sie singt, und alles, was es bedeutet. Er versuchte, den Sinn des Ganzen zu erfassen, doch die Bilder entglitten ihm und er stolperte. Wasser spritzte hoch, benetzte sein Gesicht.
Vorsicht, warnte der Hund. Wir müssen ein Stück stromab laufen, weil das Ufer hier sumpfig ist.
So mussten sie an der Frau vorbei, die weiter ihr Lied sang. Aber die Melodie zog Hagen nicht mehr derart in Bann wie zuvor. Es war, als habe der Hund den Zauber gebrochen.
Endlich hatten sie das andere Ufer erreicht. Hagen warf einen Blick auf die Frau, die gebeugt ihre weißen Tücher auswrang. Einen Moment glaubte er an eine Sinnestäuschung, aber je näher sie der Alten kamen, desto deutlicher konnte er es sehen. Ihre schwieligen Hände umkrallten die Laken. Fast überdeutlich konnte Hagen die von Arbeit gezeichneten Hände der Frau sehen. Die Frau wrang das Wasser aus den Tüchern, aber was herauskam, war nicht das klare Nass, sondern eine dunkle Flüssigkeit, rot und dick wie Blut.
Und auch das Lied hatte eine dunklere Note bekommen:
»Zerstörung, Viehraub, gewaltsamer Tod,
dreifache Rätsel, Kriegsfahrten, Heere
Herbergen, Verbote, Invasionen,
Satiren, Schlachten, schierer Mut …«
Hagens Blick fiel auf den Fluss, und er sah, dass das Wasser unterhalb der Waschstelle ebenso rot war: ein Strom aus Blut, der sich träge seinen Weg durch das grüne Tal zwischen den Hügeln bahnte.
Hagen fühlte, wie eine kalte Hand nach seinem Herzen griff. War das eines jener bösen Omen, von denen man immer wieder hörte? Betraf es ihn oder Gunhild, die in der Gewalt der Ungeheuer war? Oder betraf es gar die Menschen dieses Landes? Waren alle tot?
Beachte sie nicht. Weiter!,
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