Die Kinder von Erin (German Edition)
Orchideen, aber auch einfache Pflanzen wie Klee und Heidekraut. Sie hätte sie nicht einmal benennen können, so beschränkt wie ihre Kenntnis von wilden Blumen war. Nein, der erste Eindruck war beherrscht gewesen von grauweißem Fels, einem riesigen, fahlen Himmel und dem Meer, das von Westen her gegen die hohen Klippen donnerte.
Sie waren im Westen. Das war klar; so klar, dass Gunhild überhaupt nicht auf den Gedanken kam, die Tatsache infrage zu stellen. Sie hatte mit einem Schritt die gesamte Weite von Erin durchquert, um von der einen Küste an das andere Ende der Insel zu gelangen. Und, wie es schien, ans Ende der Welt.
Sie wandte den Blick vom Meer ab, gen Osten, ins Landesinnere, und was sie dort sah, erschreckte sie fast noch mehr.
»Cruachan.«
Brigid, ihre Begleiterin, hatte es ausgesprochen. Es war ein Wort, das aus einer älteren Zeit zu stammen schien, bevor die Menschen in dieses Land kamen. Und auch das, was es bezeichnete war alt, uralt.
Mehr ein ringförmiger Wall als ein Gebäude, überhöht von einem ebenso gedrungenen Turm, duckte die Feste sich unter den endlosen Himmel. Aufgeschichtet aus mächtigen, grob behauenen Steinblöcken, die fugenlos ineinander passten, schien es aus dem Fels emporzuwachsen: eine Warze der Erde, ein steinernes Geschwür, unnatürlich und fremd. Und doch der einzige Schutz in diesem nackten Land, in dem man sich schutzlos und allen Blicken preisgegeben vorkam wie eine Fliege an der Wand im mitleidlosen, klaren Licht des Morgens.
»Da sollen wir hin?« Gunhild blickte nach unten. Sie trug immer noch Hagens Jacke und darunter nichts als das Nachthemd, in dem sie geschlafen hatte. Ihre Füße waren immer noch bloß und zerschunden von ihrer Flucht. Der Kalkstein war voller scharfer Spitzen und Kanten. Wenige Schritte, und ihre Füße würden wieder zu bluten anfangen, schlimmer als vorher.
Brigids Blick folgte dem ihren. Sie erkannte das Problem. Mit einer raschen Bewegung zog sie das Messer aus der Scheide, die an ihrem Gürtel hing, und schnitt einen breiten Streifen von ihrem langen, durchscheinenden Gewand ab. »Hier, binde dir das um die Füße!«, sagte sie.
Der Stoff, der so zart wirkte, war fester, als Gunhild es vermutet hatte. Während sie sich die Füße umwickelte, fuhr Brigid fort: »Es ist nur ein kleines Stück die Felsen hinab. Von dort aus führt ein Pfad bis vor das Tor von Cruachan.«
Dennoch konnte Gunhild nur mit größter Vorsicht über die scharfkantigen Felsen klettern, und der Pfad war schmal und mit spitzen Steinen bedeckt. Nach der Hälfte des Wegs begann sie zu humpeln. Die alten Schnitte an ihren Füßen platzten wieder auf, und schließlich musste Brigid sie mehr tragen als stützen, damit sie überhaupt noch weiterkonnte.
An ihre Ankunft in der Feste erinnerte sie sich kaum noch. Sie wusste noch, wie das Licht plötzlich der Dunkelheit gewichen war, erinnerte sich an einen niedrigen Gang mit nach innen geneigten Wänden. Dann hatte sie sich in einem Raum wiedergefunden, der eher einer Höhle glich als einem Zimmer. Alles war aus Stein, selbst die Tische und Schränke. Das Lager, auf das man sie bettete, war ein mit Stroh gefüllter Kasten aus drei steinernen Platten, der sich an die massive Wand anschloss. Dann hatte sich eine Frau über sie gebeugt und ihr eine Tonschale mit etwas zu trinken an die Lippen geführt.
Es war nicht Brigid. Diese Person war älter, eine Frau in den besten Jahren. Ihr Haar war braun, hier und da schon von weißen Strähnen durchzogen, und ihre Gestalt füllig und schwer. Sie trug ein einfaches, braunes Gewand aus einem gewebten Stoff, der am Hals von einer bronzenen Schließe zusammengehalten wurde. Bronze blinkte auch an ihren Ohrläppchen und an ihrer Hand.
Dies alles nahm Gunhild mit einem Blick wahr, als ein Bild, das sich ihr einprägte, eher als eine Summe von Einzelheiten. Gehorsam nahm sie einen Trunk aus der Schale. Gleich darauf spuckte sie ihn wieder aus. Das Gebräu war höllisch bitter.
»Trink!«, sagte die Frau. »Das ist nur ein Absud aus Weidenrinde. Er nimmt dir die Schmerzen.«
Ein Aspirin wäre wohl zu viel verlangt, dachte Gunhild. Sie nahm einen weiteren Schluck und hielt ihn diesmal bei sich. Mit Todesverachtung leerte sie auch den Rest der Schale.
»Das ist gut«, sagte die Frau, und auf Gunhilds unausgesprochene Frage fuhr sie fort: »Willkommen im Haus der Frauen. Ich bin Eriu, Brigids Mutter. Man nennt mich auch die Mutter des Landes. Aber jetzt müssen wir uns erst um
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