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Die Kinder von Erin (German Edition)

Die Kinder von Erin (German Edition)

Titel: Die Kinder von Erin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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Verzweiflung …
    Wie er da stand in der Dunkelheit, fielen ihm plötzlich all die Enttäuschungen ein, die er in seinem kurzen Leben erfahren hatte, all die Peinlichkeiten, die er versucht hatte zu vergessen. Er dachte an seinen Vater, der nie für ihn da gewesen war; an seine Mutter, die ihn beschimpft und geschlagen hatte. Er sah sich in der Schule abseits stehen; sah sich an der Tafel, als er eine Aufgabe nicht lösen konnte und alle über ihn lachten. In der Mannschaft auf dem Spielfeld, als er den entscheidenden Freistoß verschoss. Sah sich nach Hause schleichen, mit blutender Nase, nach der Schlägerei, bei der er der Verlierer gewesen war.
    Bilder stiegen in ihm auf: von Siggi, seinem Freund; aber es waren keine freundschaftlichen Bilder. Er sah sich, wie sie beide einander feindselig gegenüberstanden, bereit, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Er sah das Misstrauen in Gunhilds Augen; hatte sie ihm nicht sogar einen unschuldigen Kuss verweigert?
    Und er sah seine neugewonnenen Freunde, am Flussufer, wie sie ihn anstarrten, als wäre er ein seltenes Tier, der Fremdling, der Außenseiter in ihrer Mitte.
    Dies alles kannst du vergessen, sagte die Stimme in seinem Innern, wenn du den einen, entscheidenden Schritt tust.
    Oh, er kannte diese Stimme. Es war nicht die Stimme der Ban-Sidhe. Es war die Stimme des Verräters, der in ihm steckte, die Stimme jener Macht, die immer nur verneint. Aber hatte sie nicht Recht?
    Ein Heulen war in seinen Ohren, wie das Heulen von Wölfen.
    »Uhuuuuuuu!«
    Die Wölflinge! Sie dachten an ihn. Sie heulten für ihn.
    Du bist nicht allein!
    Aus den Winkeln seines inneren Auges sah er einen hellen Schatten. Es war nur ein flüchtiger Eindruck vom Rande des Blickfelds; gewöhnlich hätte er daran gezweifelt, ob da überhaupt etwas gewesen war. Aber mit der übernatürlichen Klarheit, mit der er sah, erkannte er die Gestalt sofort. Der graue Hund war zurückgekehrt.
    Der Stab!, hechelte der Hund. Der Stab! Nimm den Stab!
    Welchen Stab? Hagen war so in seinen Gedanken gefangen, dass er gar keinen Sinn mehr dafür hatte, wo er sich befand und was mit ihm geschah. Der Stab aus Apfelholz war warm in seiner Hand. Er hielt ihn hoch. Selbst in der Dunkelheit, die ihn umfing, sah er ihn leuchten, grün wie die Farbe des Lebens, und dann sah er wieder die Augen der Ban-Sidhe vor sich, in deren dunklen, alles verschlingenden Blick er hineingestürzt war. Sie wichen zurück.
    Hell erglühte der Stab. Aus dem grünen Holz von Emain Ablach sprossen Triebe und Blätter. Blüten entfalteten sich, weiß und rot. Aus den Blüten wurden Früchte, fest und prall. Golden erglänzten die Äpfel der Sonne an des Mondes silbernem Zweig.
    Das Licht überstrahlte die weiße Gestalt, die immer weiter zurückwich. Sein Schimmer legte einen Hauch von Wärme in das kalte Gesicht, einen Abglanz des Goldes in das erbleichte Haar und ließ die Juwelen ihres Geschmeides in allen Farben auffunkeln. Einen Augenblick sah Hagen sie so, wie sie in der Blüte ihres Lebens gewesen war: Macha die Goldhaarige, Fürstin der Tuatha Dé Danann, Kriegerin und Göttin. Dann kräuselte sich das Bild und verblasste wie Rauch im Wind.
    Hagen schlug die Augen auf. Das Bild hatte sich nicht geändert. Noch immer stand er vor dem Eingang des Grabes. Doch die Ban-Sidhe war fort.
    Neben ihm drängelte sich der graue Hund vorbei.
    Komm! Es ist noch nicht vorbei.
    Wie im Traum folgte Hagen ihm die Stufen hinab in das Grab. Der Weg war länger, als es von außen den Anschein gehabt hatte; ja, er führte weiter und immer tiefer hinein. Obwohl es draußen Nacht war und behauener Stein sie umgab, war es doch nicht wirklich dunkel. Der Stab von Emain Ablach spendete immer noch ein mattes Licht, und auch die Wände gaben einen seltsam ungewissen Schein von sich, wie die Höhlen der Anderswelt ihn an sich haben.
    Bald wurde der Gang so niedrig, dass Hagen den Kopf einziehen musste. Von rechts und links ragten Steinplatten, eine über die andere vorkragend, in den Gang, dass sie eine Art Gewölbe bildeten. Seltsame Muster bedeckten die Seitenwände, Spiralen und Zickzacklinien; man konnte nicht sagen, ob sie nur aus einem instinktiven menschlichen Bedürfnis entstanden waren, Flächen mit Mustern zu schmücken, oder eine tiefere Bedeutung hatten.
    Schließlich gelangten Hagen und sein Führer an eine Art Portal. Ein länglicher Stein war in die Seitenwände verkeilt, dass er eine Art Türsturz bildete. Darüber gab es nur noch eine kleine,

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