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Die Kinder von Erin (German Edition)

Die Kinder von Erin (German Edition)

Titel: Die Kinder von Erin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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Monuments, auch um dem Wind zu entgehen, der hier auf der kahlen Hügelkuppe pfiff. Sie saßen ein gutes Stück auseinander, so weit entfernt, dass sie einander gerade mit den Fingerspitzen hätten berühren können. Der Wind heulte lauter. War da nicht eine andere, schrillere Note in seinem Heulen? Hagen spitzte die Ohren. Aber da war nichts, nur das Singen des Luftzugs zwischen den Steinen.
    Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zu dem dunkler werdenden Himmel empor. Inzwischen war die Sonne ganz hinter dem Horizont verschwunden; nur ein roter Streifen von gebrochenem Licht, wie der Widerschein einer Feuersbrunst aus einem Reich jenseits der Welt, hüllte die westlichen Baumwipfel in einen Mantel aus glühendem Dunst. Das Licht schwand. Die Sterne traten hervor. So hatte er sie oft gesehen, allein, von seinem Zimmerfenster aus: den großen Bären, den Jäger mit seinem leuchtenden Gürtel, die anderen, denen er seine eigenen Namen gegeben hatte: Schmetterling und Schlange, Drache und Einhorn. Wie mochten wohl die Bewohner der Anderswelt diese Sterne nennen? Ob sie auch Bezeichnungen dafür hatten?
    Hagen war oft allein gewesen, abends in seinem Zimmer. Sein Vater war auf See gewesen und nur alle paar Monate nach Hause gekommen, solange der Junge sich erinnern konnte. Seine Mutter hatte nachts in einer Kneipe gearbeitet oder in einer Bar, und so hatte er sich abends selbst etwas zu essen gemacht und dann auf sein Zimmer zurückgezogen, um die Sterne anzuschauen.
    Plötzlich überkam ihn ein unerklärliches unendliches Heimweh nach den vertrauten Dingen, die er daheim gekannt hatte. Er war allein, in einer fremden Welt; er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er je wieder nach Hause kommen sollte. Und hier saß er nun, an einem unbekannten Ort, in der Dunkelheit, im feuchten Gras, im Rücken den kalten Stein eines uralten Grabes und neben sich einen Mann, der ihm sicher am liebsten die Gurgel durchgeschnitten hätte.
    Allein, heulte die Stimme des Windes.
    Hagen schreckte auf. Hatte er geträumt? Er wandte den Blick nach rechts, wo er Fergus in der Dunkelheit mehr ahnen als sehen konnte. Hatte der Mann sich bewegt? Das Kettenhemd klirrte leise; jeder Laut trug weit in der klaren, mondlosen Nacht. Fergus atmete schwer. Er hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt.
    Du bist allein, sagte der Wind. Allein und keiner kann dir helfen.
    Ein trockener, würgender Laut. Fergus’ Gesicht war jetzt deutlicher zu erkennen. Die Augen traten hervor, die kantigen Kiefer mahlten. Aber er blieb stumm. Und da erkannte Hagen, dass das Würgen aus seiner eigenen Kehle emporgestiegen war.
    Fergus richtete sich auf. Seine Augen traten schier aus den Höhlen. Jede Niete seines Helmes, jeder Ring seines Kettenhemdes war deutlich zu erkennen.
    Allein. Ooooh, so allein. Ganz allein.
    Woher kam das Licht? Hagen blickte sich um. Vom Rande des Hügels, wo der Steinkreis begann, stieg ein weißer Nebel auf, der von innen zu leuchten schien, kroch zwischen den Steinen den Hang hinauf, griff mit klammen Fingern nach den Büschen und Gräsern, die auf dem Hügel wuchsen.
    »Da, der Hirsch! Er ist weiß …«
    Hagen wandte den Kopf. Fergus, den Mund geöffnet, wies mit ausgestrecktem Finger in das ungewisse Zwielicht. Hagen folgte seinem Blick. Erst sah er nichts; dann erkannte er eine Gestalt, einen hellen Schatten, der den Hügel heraufgesprungen kam. Aber er war nicht weiß, sondern grau.
    »Das ist nur mein Hund!« Hagen lachte auf, plötzlich erleichtert. »Der graue Hund, der mich hierher geführt hat.«
    Er war so froh, den Begleiter von gestern wiederzusehen, dass er aufsprang und einen Schritt in die Richtung machte, wo er den grauen Hund gesehen hatte.
    Nebel hüllte ihn ein. Weißer, wallender Nebel. Er war so dicht, dass Hagen die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Nebel umgab ihn von allen Seiten. Er sah nicht mehr, wohin er die Füße setzte. Der Boden glitt unter ihm hinweg, und er spürte ihn nicht mehr. Er trieb durch einen endlosen Nebel, ohne Orientierung, ohne Ziel. Er wusste nicht mehr, wo oben oder unten war, vorn oder hinten. Gerade hatte er noch auf festem Boden gestanden, mit verwittertem Stein in seinem Rücken. Jetzt fiel er, taumelnd, sich überschlagend durch eine endlose, formlose Leere, in der nichts mehr sicher war, nichts mehr gewiss.
    Bis auf das eine. Er war allein.
    Allein …
    Der Wind heulte. Nein, es war nicht nur der Wind. Es war das Heulen einer verlorenen Seele, ein Laut von unendlicher

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