Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Aufgabe, die vor ihm lag, mit seiner Paradeuniform bekleidet, ging er mit zehn Kämpfern seiner Leibwache durch alle Straßen des Lagers. So oft er konnte, blieb er stehen und sprach mit den Leuten, erwiderte hundert militärische Grüße und dankte allen, die er traf, für ihre Unterstützung während der Seuche.
Es war nicht erstaunlich, dass im Lager das Chaos herrschte, doch die Anzeichen, dass es zur Normalität zurückkehrte, waren nicht zu übersehen. Die Quarantäne für die Pferde war aufgehoben worden, da die Ratten und Flöhe vernichtet waren, und die Kavalleristen konnten sich wieder mit ihren Tieren beschäftigen. Zürn ersten Mal seit er erkrankt war, konnte man im Lager sogar wieder Lachen hören. Kochfeuer knisterten in der Hitze am Spätvormittag, doch eine kühle Brise hielt die Temperatur erträglich.
Roberto hatte bei seinen ersten Schritten vor dem Zelt begierig die frische Luft eingeatmet. Jetzt atmete er noch einige Male durch, als ihn die Gerüche des Lagers, angenehme und üble, umwehten. Es kam ihm vor wie der Duft des neuen Lebens nach der abgestandenen, von Kräutern getränkten Luft in seinem Zelt.
Doch so begeistert seine Legionen ihn auch begrüßten, jeder Schritt tat ihm weh. Vom sonst üblichen Gedränge und der alten Geschäftigkeit war nichts zu sehen. Der Lärm, den er von früher kannte, war gedämpft, auch wenn die Leute guter Dinge waren. Die Kraft, die sein Heer ausgestrahlt hatte, war verschwunden. Zu viele waren gestorben, zu viele gute Männer und Frauen ruhten in den Armen Gottes, obwohl sie doch für die kommenden Schlachten hätten ihre Rüstungen polieren und ihre Schwerter schärfen sollen. Wie angreifbar waren doch selbst die Stärksten im Angesicht eines so kleinen Feindes. Wie empfindlich war ihr Dasein auf Gottes Erde, da ein einziger Stoß so viele ins Verderben stürzen konnte.
Die Zelte der Zehnten Legion, denen die Bewohner fehlten, waren als provisorische Krankenquartiere an die Wundärzte übergeben worden. Roberto ging nun hinüber, um sich zu erkundigen, wie stark sein Heer noch unter der Krankheit litt. Als er sich näherte, trat Dahnishev aus einem der Zelte und rieb seine Hände an einem Tuch trocken. Sein Gesicht war ernst, aber er lächelte, als er Roberto sah.
Er kam sofort herüber und fasste seinen General bei den Oberarmen. »Es erfreut mein Herz, meinen General auf den Beinen zu sehen«, sagte er.
»Wie ich mich erst freue, dass ich laufen kann«, erwiderte Roberto. »Du siehst schrecklich aus. Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«
»Zwinge mich nicht, dich anzulügen, Roberto«, sagte Dahnishev. »Vertrau mir, dass ich auf mich selbst aufpassen kann.«
»Wie du willst. Wie viele sind noch krank?«
»Es werden jeden Tag weniger. Ich habe noch zweihundert mit Fieber und etwa weitere fünfzig, die sich erholen. Es nähert sich dem Ende, aber du musst damit rechnen, dass noch etwa hundert sterben. Vielleicht haben wir Glück, und es sind ein paar weniger.«
»Wirke deine Wunder, mein Freund. Wir brauchen sie dringender denn je.« Roberto schüttelte den Kopf. »Es ist so still hier.«
»Ein Viertel unserer Truppe ist tot«, sagte Dahnishev. »Aber diejenigen, die überlebt haben, haben einen stärkeren Willen als je zuvor.«
»Die meisten jedenfalls.« Roberto nickte in Richtung der Einfriedung. »Wäre ich jetzt eine Hilfe oder eine Störung für deine Patienten?«
»Was denkst du? Komm herein.«
Dahnishev führte ihn zu jeder Pritsche, auf der ein Kranker lag. Einige hatten Fieber und wussten nicht, wer vorbeiging. Diejenigen aber, die schon auf dem Wege der Besserung waren, schöpften neuen Mut aus seinem Besuch, und so blieb er bei jedem stehen und spendete ihnen Trost und Kraft, so gut er konnte. Shakarov und Davarov lagen in einem eigenen Zelt. Beide hatten noch Fieber und waren nicht bei Bewusstsein. Ihre Liegen standen dicht nebeneinander, weil Dahnishev glaubte, die beiden alten Freunde könnten sich gegenseitig Kraft geben. Roberto trat in die schmale Lücke dazwischen und kniete nieder, damit er jedem eine Hand auf die heiße Stirn legen konnte.
»Guter Gott, der diese Erde segnet wie alles, was auf ihr wächst und auf ihr wandelt, verschone diese beiden Männer, denn sie müssen in deinem Namen große Dinge verrichten. Sie sollen wieder die Sonne auf den Gesichtern spüren und deine Gnade erfahren. Darum bitte ich dich als dein demütiger Diener.« Er schloss einen Augenblick die Augen, legte ihnen die Hände auf die
Weitere Kostenlose Bücher