Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
steif und taub geworden, während sie geschlafen hatte, und sie konnte nicht einmal die Hände weit genug heben, um den zerquetschten Brustharnisch zu lösen. Als die Schmerzen abebbten, bewegte sie sich erheblich langsamer voran.
Die Verzweiflung, die sie vor ihrer Ohnmacht empfunden hatte, war verschwunden und dem Wunsch nach Wissen gewichen. Ihr war klar, dass die Konkordanz eine vernichtende Niederlage erlitten hatte, aber ebenso gewiss war, dass Tausende ihrer Leute in alle Winde verstreut waren. Nach ihrer Flucht vom Schlachtfeld versuchten sie, den Weg nach Hause zu finden und dem tsardonischen Heer zu entkommen. Andere, die weggelaufen waren und sich versteckt hatten, waren für immer verloren, die Opfer ihrer eigenen Angst. Sie musste diese Leute finden und ihnen helfen und vor allem Informationen über das Ausmaß der Katastrophe bekommen.
So leise sie konnte, rutschte und schlitterte Kell am Flussufer entlang und suchte eine Stelle, an der sie möglichst leicht die Böschung erklimmen konnte. Jede Bewegung jagte schreckliche Schmerzen durch ihren ganzen Körper, und selbst der leichteste Anstieg war schon eine Tortur. Dann blickte sie über die sumpfige Ebene zum Lager, und die Tränen, die Verzweiflung und der Kummer drohten sie erneut zu überwältigen.
Über die weite offene Fläche hallten tsardonische Siegeslieder. Das Gelächter der Sieger verhöhnte sie. Überall hatten sie Lagerfeuer entzündet, eine makabre Kulisse aus Flammen, vor der Silhouetten fröhlich tanzten. Aber kein Feuer war so groß wie der Brand, der dort tobte, wo einst die stolzen Lager der Konkordanz gestanden hatten. Achtzigtausend hatten dort gelebt. Für wie viele sie zu Scheiterhaufen geworden waren, konnte sie nicht einmal ahnen.
Sie starrte und sah sich um. Sie war von Feinden umgeben. In beiden Richtungen auf der Ebene und vor ihr in Richtung des Lagers und der Furten lagerten die Feinde. Es war kaum möglich, ihnen zu entkommen, indem sie die Ebene zu überqueren versuchte. Erst recht nicht mit ihren Verletzungen.
Wenn die Feinde endlich losmarschierten, würde sie wenigstens deren Position und Marschrichtung weitergeben können. Falls sie ein Pferd fand, konnte sie sich sogar schneller bewegen als eine marschierende Armee. Sie konnte es sich erlauben, vorerst einfach abzuwarten, aber auf die eine oder andere Weise musste sie nach Estorr gelangen. Wenigstens nach Atreska oder Gosland. Das war die Pflicht jedes Bürgers der Konkordanz, der ihrer besiegten Armee angehört hatte.
Irgendjemand musste ihnen sagen, was auf sie zukam.
Kovan Vasselis fand Mirron allein im Obstgarten. Es war ein friedlicher Tag, von den Klippen über der Bucht waren die Schreie der Möwen zu hören. Es war schön, und der Seewind hielt die Temperatur in erträglichen Grenzen. Mirron trug das einfache blaue Kleid, das auf so natürliche Weise ihre Schönheit unterstrich. Kovan dagegen kam sich in der formellen Toga, die sein Vater ihn tragen ließ, wenn sie Westfallen besuchten, übertrieben fein vor. Zu der Toga gehörte auch noch eine Schärpe im Grün der Konkordanz und im Blau der Familie Vasselis, und am Ledergürtel trug er seinen Gladius in der goldenen gewobenen Scheide.
Sie saß an einen Baum gelehnt und blickte in die krank aussehenden Zweige empor, während sie die Hände fest aufs Gras gelegt hatte. Rings um ihre Finger waren die grünen Halme sogar ein wenig gewachsen, als spürten sie ihre Gegenwart.
»Mir war gar nicht klar, dass dabei so etwas passieren kann«, sagte er, dankbar für den Anlass, das Gespräch zu eröffnen.
Sein Mund war trocken, und in seinem Magen polterte es. Das war wirklich albern. Sie war drei Jahre jünger als er, aber sie hatte schon immer diese Wirkung auf ihn ausgeübt. Erst in der letzten Zeit hatte er allerdings wirklich begriffen, was es zu bedeuten hatte, und nun war er entschlossen, sie trotz der Konkurrenz für sich zu gewinnen. Sie fuhr auf und drehte sich abrupt herum, dann lächelte sie, als sie ihn erkannte.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Respektvoll blieb er ein Stück entfernt stehen.
»Schon gut«, sagte sie mit ihrer weichen, melodischen Stimme. »Ich war meilenweit entfernt, verloren im Baum. Ich versuche herauszufinden, warum er stirbt. Was hast du gesagt?«
Kovan deutete auf ihre Hände. »Das Gras. Ich wusste nicht, dass es rings um dich wächst.«
Mirron blickte nach unten und nickte. »Wir kommen allem, was wächst, sehr nahe«, erklärte sie. »Ich
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