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Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich

Titel: Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Barclay
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komplizierten Gravuren übersehen, die jede Fläche des aus Marmor und Sandstein errichteten Gebäudes bedeckten. Die Wandbilder beschrieben Havessels Schlachten und die Rückkehr der Kriegsbeute nach Estorr. An einem trüben Tag schimmerten die goldenen Einlegearbeiten nicht, und auch die Wächter, vier Statuen von Kriegshelden, jeweils einhundertfünfzig Fuß hoch, wirkten bei weitem nicht so einschüchternd und schienen beinahe mit den Schatten zu verschmelzen. Dennoch blieb Jhered immer stehen und strich mit der Hand über den jahrhundertealten Stein, um sich an das Vermächtnis zu erinnern, das zu beschützen und zu fördern er geschworen hatte.
    Jhered trat aus dem von Laternen beleuchteten Inneren des Triumphbogens, erwiderte den Salut der Palastwache und wanderte über den mit Marmor ausgelegten Hof, dessen Mosaike längst zu Mythen und Legenden verblasste siegreiche Schlachten und Ruhmestaten abbildeten. Er widerstand der Versuchung, sich in seiner privaten Schreibstube zu erfrischen, und ging direkt zur Basilika. Zwischen den Säulen bewegten sich Würdenträger, die bunte Togen trugen, gelegentlich blitzte auch eine polierte Rüstung. Vor dem Haupteingang des offenen Gebäudes hing das Banner der Advokatin, was bedeutete, dass heute ein Tag öffentlicher Gesuche, Debatten und Erklärungen war.
    Der leichte Wind wehte, während er sich näherte, ein Gewirr von Stimmen herüber, unter denen eine alle anderen zu übertönen wusste: Felice Koroyan, die Kanzlerin des Ordens der Allwissenheit. Dem Rang nach war sie die zweitmächtigste Persönlichkeit in der Konkordanz. Jhered hätte jederzeit sein Leben gegeben, um diese Frau zu schützen, doch er verabscheute es, die gleiche Luft zu atmen wie sie. Allerdings genoss er die Machtkämpfe und die unausweichlichen offenen Auseinandersetzungen zwischen ihr und der Advokatin. Heute schien es besonders hoch herzugehen.
    Jhered lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Marmortreppe hinauf und marschierte rasch durch die Vorhalle, vorbei an den Bannern, die an allen Säulen hingen, und den Soldaten, die ihm mit aufgerichteten Speeren salutierten. Seine mit Stahlkappen verstärkten Stiefel hallten laut unter der gewölbten Decke, das Geräusch trug weit durch die ganze Basilika. Ihm wurde bewusst, dass die Stimmen verstummten.
    Schließlich bog er nach links in den Audienzsaal ab, der überfüllt war von den Großen, den Guten und den Heruntergekommenen aus dem Reich der Advokatin. Sie selbst saß auf einem um zwei Stufen erhöhten Thron und blickte auf ihre Untertanen hinab. Es war ein breiter Sitz, für einen weitaus mächtigeren Körper erschaffen, geschmückt mit Schnitzereien und Gold und im Dunkelgrün der Konkordanz gepolstert.
    Sie trug die fließenden Staatsroben. Feinste Wolle aus Tundarra, strahlend weiß, grün und golden gesäumt, dazu eine Amtsschärpe von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte. Ihr kurzes, teils ergrautes dunkles Haar war mit goldenen Fäden durchwirkt, darauf trug sie eine Tiara. Sie war halb auf ihrem Thron zusammengesunken, hatte einen Ellenbogen auf eine gepolsterte Armlehne gestemmt und stützte ihr Kinn mit einer Hand. Jetzt aber setzte sie sich aufrecht und lächelte leicht.
    Aller Augen ruhten auf ihm. Er schritt durch die mit Höflingen besetzten Bankreihen in den freien Raum zwischen der Bühne und den beiden Reihen von jeweils fünf Stühlen mit hohen Lehnen, die dem Thron am nächsten standen. In angemessener Entfernung vor der Kanzlerin, die auf der rechten Seite neben ihrem Stuhl stand und ihn böse anstarrte, blieb er stehen. Inzwischen waren alle Gespräche verstummt.
    »Ich bitte für mein unangekündigtes Erscheinen um Vergebung, meine Advokatin.« Er drehte sich leicht zur Kanzlerin herum. »Lasst Euch bitte nicht stören.«
    Die Advokatin unterdrückte ein Lachen und hielt sich eine Hand vor den Mund. Die Kanzlerin schwieg einen Augenblick.
    »Setzt Euch nur, Schatzkanzler Jhered«, sagte sie schließlich. »Ich habe das Wort, und Eure Ankunft wird trotz ihrer Lautstärke daran nichts ändern.«
    »Dennoch ist es eine angenehme Überraschung«, sagte die Advokatin, deren angenehme, befehlsgewohnte Stimme einen deutlichen Kontrast zum starken südöstlichen Akzent der Kanzlerin bildete. Jhered verneigte sich noch einmal und nahm auf seinem Sitz auf der linken Seite Platz. Dabei drückte er kurz Marschallverteidiger Vasselis von Caraduk, der überraschenderweise ebenfalls anwesend war, die Hand. Danach begrüßte er

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