Die Kinder von Estorea 01 - Das verlorene Reich
Papiere und Berechnungen stehen Euch zur Überprüfung zur Verfügung.«
Die Kanzlerin verneigte sich leicht und machte einen einzigen Schritt rückwärts. Auf den Zuschauerbänken weiter hinten erhob sich Gemurmel, während die Advokatin über ihre Antwort nachdachte. Jhered runzelte die Stirn, denn trotz der Neigung der Kanzlerin, ihre Darstellungen zu übertreiben, bereitete ihm das Gehörte Sorgen. Unangenehme Gedanken schossen ihm durch den Kopf.
»Bleibst du lange in Estorr?«, fragte Vasselis.
Jhered drehte sich um. Vasselis sah ihn mit seinen tiefen, klugen Augen an.
»Zehn Tage, nicht länger. Ich habe nicht damit gerechnet, dir hier zu begegnen.«
»Und ich habe nicht mit dir gerechnet. Du hast dich in den letzten Jahren rar gemacht.«
»Im Osten gibt es viel Arbeit.«
Vasselis’ Lächeln wurde breiter. »Die Arbeit des Schatzkanzlers ist einsam und undankbar.«
Jhered kicherte. »Das hast du von mir, was?«
Vasselis nickte. »So ist es. Und ich würde mich über eine Gelegenheit freuen, bei einem Abendessen noch weitere Perlen deiner Weisheit zu hören, ehe wir beide wieder aufbrechen müssen.«
»Das Essen möchte ich um keinen Preis verpassen.«
»Kanzlerin Koroyan.« Die Advokatin beugte sich auf ihrem Thron vor und rieb sich mit einer Hand das Kinn. Sofort hörten alle Unterhaltungen auf. Jhered setzte sich bequem und hörte zu. »Ich will mich kurz fassen, denn natürlich werde ich Eure Unterlagen noch ausführlich studieren. Allerdings fällt es mir, unabhängig von allem, was in Euren Schriften stehen mag, nicht leicht, ein Urteil zu Euren Gunsten zu fällen, und zwar aus folgenden Gründen.
Als Erste Sprecherin des Ordens will ich natürlich dafür sorgen, dass das Wort des Allwissenden Gottes bis in die hintersten Winkel der Konkordanz verbreitet werde. Wir beten den einzig wahren Gott an, und alle anderen Religionen mit ihren falschen Idolen und den falschen Göttern verkünden falsche Verheißungen. Daran glauben wir alle. Doch allmählich macht es mich müde, wenn ich immer wieder erklären muss, dass der Weg zur Erleuchtung für jene, die falschen Religionen anhängen, ein Weg der Bildung und des Vorbilds und gewiss kein Weg der Gewalt und Kontrolle sein sollte.
Seid Ihr nicht meiner Meinung, dass Ihr den theologischen Streit bereits verloren habt, wenn Ihr ein Volk mit Gewalt zwingen müsst, dem Weg des Allwissenden zu folgen?«
Sie hob eine Hand, um die Proteste der Kanzlerin zu unterbinden.
»Ich bezweifle nicht, dass alle Anhänger des Ordens das Bedürfnis verspüren, zu predigen und jeden Heiden zu bekehren, dem sie begegnen. Doch ist Widerstand etwas Natürliches. Ihr könnt nicht hoffen, Jahrhunderte des falschen Glaubens mit ein paar überlieferten Worten zu überwinden, die mit Schwert und Bogen in der Hand gesprochen werden. Es braucht Zeit, und in den äußeren Gebieten sind die Wunden noch frisch. Mit der Zeit wird es sich schon ergeben, und noch schneller, wenn Tsard erst unter der Regentschaft der Konkordanz steht. Doch selbst dann wird es noch einige geben, die sich nicht bekehren lassen, und das müssen wir respektieren. Kanzlerin Koroyan, wir müssen sie respektieren. Sie sind einfach Ungläubige, die einen einzigen kurzen Zyklus auf Gottes Erde erleben dürfen, während wir uns erneuern, um neue Ruhmestaten zu vollbringen.
Sucht sie zu verstehen, aber unterdrückt sie nicht, denn sonst erschafft Ihr mit eigener Hand die Gegner, die Euch hassen. Es ist mir so gut wie unmöglich, Mittel aus der Schatzkammer freizugeben, damit Ihr Eure jetzt schon recht großen Truppen noch weiter ausbauen könnt. Sie sind groß genug, um unter denen, die beim Namen Gottes schwören, für Ordnung zu sorgen, und um die Missionare jenseits unserer Grenzen zu beschützen.
Falls, und ich sage ausdrücklich, falls ich weitere Mittel freigebe, dann sollten sie ausschließlich dazu eingesetzt werden, weitere Leser, Pastoren und Sprecher zu rekrutieren, und um weitere Häuser der Masken zu errichten. Dort sollte Eure wahre Kraft liegen. Vielleicht solltet Ihr Euch auch einmal Gedanken darüber machen, wie Ihr derzeit Eure Mittel einsetzt. Vielleicht seid Ihr auch an einer unabhängigen Überprüfung interessiert, um festzustellen, wo gegebenenfalls in Eurem Namen Mittel verschwendet werden.«
Sie deutete auf Jhered, und der Schatzkanzler konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die Miene der Kanzlerin jedoch war wie versteinert, während die Advokatin sich nicht anmerken ließ, was
Weitere Kostenlose Bücher