Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
er fünf verschiede Infanterieeinheiten erkennen, und zweifellos gab es bewegliche Reserven. Wieder einmal spielte Gesteris mit dem Gedanken, einige Reiter hinauszuschicken, die versuchen sollten, die Geschütze auszuschalten, und wieder verwarf er den Gedanken. Die zahlreichen Bogenschützen würden alles vernichten, was er aussenden konnte. Dies war die schlimmste aller Welten. Ihr Verhängnis war höchstens noch eine halbe Meile entfernt, und sie konnten nichts tun außer hilflos zuschauen.
Gesteris runzelte die Stirn, als in der kalten, stillen Luft ein Laut zu ihm drang. Sie sangen. So etwas hatte er noch nicht gehört. Es waren keine Hymnen, die vom bevorstehenden Sieg kündeten, die das Blut in Wallung brachten und den Körper belebten, sondern ein ruhiger, melodischer Gesang. Zehntausende Stimmen erhoben sich, und Gesteris standen die Haare zu Berge, als der Gesang ihn durchflutete wie die Kraft eines Meeres.
Es war ein melancholisches Lied voller Trauer. Die Worte verstand er nicht, aber die Gefühle waren klar zu erkennen. Er verstand auch, warum sie sangen, und warum jeder Mann und jede Frau in seinen Verteidigungsanlagen lauschte, ohne mit einem eigenen Lied zu antworten.
»Sie fürchten zu verlieren«, sagte einer der Torwächter, der den gespenstischen, schönen Gesang wie alle anderen vernommen hatte.
»Nein«, erwiderte Gesteris. »Sie wissen, dass sie siegen werden, aber sie kennen den Preis. Auch auf ihrer Seite werden, wie bei uns, viele nicht mehr nach Hause zurückkehren.«
Roberto weigerte sich beharrlich, eine Pause einzulegen und den Einwohnern zu helfen, obwohl seine atreskanischen Freunde ihn dazu drängten. Ihr Land war zerstört, aber das Ausmaß der Zerstörung hatte sie alle überrascht. Auf dem Weg nach Süden, nach Gestern, waren sie auf Straßen marschiert, die die Tsardonier nicht benutzten. Auf dem ganzen Weg bis Neratharn sahen sie nichts als Zerstörung.
Ausgebrannte Siedlungen und Dörfer, Hinweise darauf, dass Vieh und Getreide geraubt worden waren, die Leichen von Männern, Frauen und Kindern am Straßenrand und überall sonst, wo seine Späher und Plündertrupps sich umsahen. Einige waren durch die Klingen der einen oder der anderen Besatzungstruppe gestorben. Manche waren erfroren. Viele der Jüngsten waren zweifellos verhungert.
Immer wieder war die Hauptstraße von Flüchtlingen verstopft, die nach Byscar wollten, jeder so verzweifelt und unschuldig wie der nächste. Sie konnten keinen Einzigen davon aufnehmen. Die Truppe hatte in Gestern frische Vorräte gefasst, aber bis die Schlacht geschlagen war, würde es keinen Nachschub mehr geben. Dies hatte die Spannungen zwischen Atreskanern und Estoreanern wieder aufflammen lassen.
Roberto führte sein Pferd an der Spitze des Zuges, um sich mit seinen Soldaten solidarisch zu erklären, die in einem mörderischen Tempo marschieren mussten. Auf der Hauptstraße verlangte er fünfunddreißig Meilen am Tag. Das war schwierig, weil sie auf immer mehr Eis und Schnee trafen. Gern hätte er den Leuten versprochen, sie würden bald entlassen und könnten nach Hause zurückkehren, aber viele hatten kein Zuhause mehr. Verständlich, dass die Moral unter den Atreskanern nicht sehr gut war.
»Nur eine Geste«, drängte Davarov ihn. »Damit meine Leute verstehen, dass es dir am Herzen liegt.«
»Wenn sie es jetzt noch nicht wissen, dann werden sie es nie begreifen«, erwiderte Roberto. »Ich glaube auch nicht, dass es unsere Schwierigkeiten behebt, wenn ich ein hungriges Kind auf die Arme nehme. Wir können uns nicht erlauben, vom Ziel abzuweichen, und auch den Verlust an Vorräten können wir nicht verschmerzen. Ich musste sowieso schon Befehle erlassen, dass nachts weder Essen noch Decken über die Palisaden hinausgereicht werden dürfen. Du musst unter deinen Leuten die Befehle durchsetzen. Ich bin es leid, jede Nacht so viele Wachen aufzustellen. Da draußen warten noch viel größere Schwierigkeiten auf uns.«
»Halte mir keine Vorträge über das Wohl des Ganzen, Roberto.« Der große Atreskaner wandte das Gesicht ab. Roberto war klar, wie schwer es Davarov fiel, seine Frustration zu beherrschen. »Das sind die Leute, die wir eigentlich retten wollen.«
»Glaubst du, mir tut es nicht um jeden Waisenjungen leid, den ich sehe? Glaubst du, ich habe nicht wie du den Wunsch, diesen Menschen zu helfen? Du kannst es mir ruhig glauben. Aber wenn wir anhalten und einem helfen, sind wir moralisch verpflichtet, allen anderen
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