Die Kinderhexe
In seiner Tasche führte er Felicitas’ Rosenkranz mit sich.
«Gebt dies meinem Weib, ich bitt Euch», sagte er und händigte ihn Ludwig aus. «Er ist ihr lieb und teuer.»
Beim Anblick des Rosenkranzes schwand Ludwigs Zorn. Dieser Bitte konnte er sich nicht entziehen. «Ich werde mit ihr beten», antwortete er und nahm den Rosenkranz.
Doch bevor er die Hand zurückziehen konnte, ergriff Christian sie. «Lasst sie wissen, dass sie nicht allein ist.»
«Der wahre Gläubige ist niemals allein», antwortete Ludwig mit Blick auf seine Hand.
«Ihr würdet auch mir eine Last von den Schultern nehmen, wenn Ihr mir Nachricht von meinem Weib bringen könntet.»
Ludwig versuchte sich zu befreien. Doch Christians Griff war fest und unnachgiebig.
«Ich werde sehen, was ich tun kann.»
Jetzt endlich ließ Christian ihn los. Ludwig rieb sich die Hand und eilte schnurstracks auf das Hauptportal zu.
«Ihr hättet ihm die Hand brechen sollen», sagte Helene vorwurfsvoll, «anstatt sie ihm zu küssen.»
Er nickte. «Glaubt mir, ich hätte nichts lieber getan.»
Die beiden sahen sich an, und Helene ergriff die Initiative. «Ihr seid der Stadtrat Dornbusch, wenn ich nicht irre.»
«Und Ihr Kathis Mutter», erwiderte Christian.
«Wie geht es Eurem Weib?»
«Ich weiß es nicht. Faltermayer lässt niemanden zu ihr vor.» Sein alter Zorn stieg wieder in ihm hoch. «Ich könnte ihn umbringen.»
Helene zeigte ihm ihr Mitgefühl. «Ich verstehe Euch gut. Auch ich könnte zur Mörderin werden, wenn ich nicht bald erfahre, was mit meinem Kind hier geschieht.»
Im Hintergrund hatte Volkhardt die Szene verfolgt. Nun war eine gute Gelegenheit, um sich vorzustellen. «Entschuldigt, werter Herr und werte Dame. Ich hörte, Ihr fiebert um das Wohlergehen eines der Euren.»
Christian und Helene schauten ihn überrascht und fragend an. Der Bengel hatte sich die ganze Zeit hier herumgetrieben, und keiner von ihnen wusste, wer er war und was er vorhatte.
«Wer bist du?», fragte Christian. «Und was hast du hier zu suchen?»
«Ich bin Volkhardt von Hohenstätt, und ich sorge mich um eine Freundin, die im Spital gefangen gehalten wird. Nun, eigentlich sind es zwei.»
«Wer ist diese Freundin?», fragte Helene.
«Ein Mädchen namens Ursula. Und das andere Mädchen heißt Kathi.»
Helene war erstaunt. Sie hatte nicht gewusst, dass Kathi mit einem Jungen befreundet war, und dann noch mit so einem verschmutzten und heruntergekommenen Bengel.
Der Name Hohenstätt kam Christian hingegen bekannt vor. Er hatte ihn schon einmal gehört. Er wusste nur nicht in welchem Zusammenhang.
«Weißt du etwas über Kathi?», fragte Helene. «Wie geht es ihr?»
«Ich habe erst heute Morgen von ihrer Festnahme erfahren», antwortete Volkhardt. «Niemals hätte ich sie alleine lassen dürfen. Es ist meine Schuld.»
«Was meinst du damit?», fragte sie, und Volkhardt erzählte, wie er sie am Wachhaus der Mainbrücke in Sicherheit zu bringen versucht hatte. Leider war das genau die falsche Entscheidung gewesen. Er hätte sie stattdessen mitnehmen müssen bei seiner Suche nach Lorentz. «Es tut mir leid.»
Sie seufzte. Was sollte sie nur mit diesem Jungen anstellen? Wäre er nicht gewesen, dann wäre Kathi vielleicht noch frei. Hätte er sie andererseits nicht aus der Kammer in Neumünster befreit, wäre sie noch früher im Kerker gelandet.
«Du kennst diesen kleinen Teufel Lorentz?», fragte Christian.
«Ja», antwortete Volkhardt, «er war lange Zeit in meiner Bande. Nun hat er seine eigene.»
«Der Bischof lässt nach ihm und seiner Bande suchen.»
«Er wird sie nicht finden. In der Stadt gibt es Hunderte Keller und versteckte Gänge für die Stadtverteidigung. Sie halten sich darin auf, bis er sie ruft.»
Sei’s drum, sagte sich Christian, Lorentz und die anderen waren nicht sein Problem. Viel wichtiger war, wie er Nachricht über Felicitas erhielt. Ludwig konnte man nicht trauen.
«Vielleicht kann ich Euch helfen», sagte Volkhardt. «Gleich hinter dem Spital verläuft die Stadtmauer mit sechs Wehrtürmen. Ich weiß, dass es zu jedem Turm einen geheimen Fluchtweg gibt.»
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31
Auch wenn die Befestigungen der Stadt nach außen einen wehrhaften Eindruck machten, waren sie für ein wissendes Auge ein leicht zu überwindendes Hindernis. Die Wälle, Mauern und Wehrtürme waren in einem chronisch miserablen Zustand. Der Bischof, in dessen Verantwortung die Landesverteidigung und auch der Schutz seines Amtssitzes lagen,
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