Die Kinderhexe
zog es stattdessen vor, die knappen Mittel in ein Söldnerheer zu stecken, das zum Schutz von Stadt und Land an fernen Fronten kämpfte.
Die Stadt zu Füßen seiner Burg stellte für ein zielstrebiges kleines Heer kein größeres Problem dar. Deshalb waren besorgte Bürger auf eine Idee gekommen. Als Erster hatte ein gewisser Clemens Mantheufel einen Schutzkeller und Fluchttunnel gegraben, um seine Familie vor feindlichen Kämpfern zu schützen, sobald sie die Mauern überwunden hatten. Sein Beispiel machte Schule, und mit der Zeit hatte sich entlang der Befestigungen ein kleines Netz aus Tunneln und Schutzräumen gebildet.
Auch der Bauherr des Juliusspitals hielt sich diese Fluchtmöglichkeit offen. Gleich hinter dem Stift verlief die Stadtmauer mit sechs Wehrtürmen, die mittels der Tunnel mit Waffen und Kämpfern bedient werden konnten.
Volkhardt hatte Christian und Helene zu einem versteckten und mit Büschen geschützten Zugang geführt. Das Schloss, das die Eisentür verriegelte, war mit einem ausreichend großen Stein zu öffnen.
«Los, beeilt Euch», sagte Volkhardt und wies Christian und Helene an, in den schulterhohen Zugang zu schlüpfen. Ein mit Lumpen umwickelter Stock würde als Fackel dienen. «Die Wachen kontrollieren mehrmals am Tag. Wir haben also nicht lange Zeit.»
Er drückte Christian einen langen Ast in die Hand, den er von einem Haselnussstrauch geschnitten hatte.
«Was soll ich damit?», fragte Christian.
«Den werden wir später noch brauchen.»
Die Nacht brach an. Helene war nicht wohl bei dem Gedanken, einem unbekannten Jungen in einen dunklen und von Stadtknechten bewachten Schacht zu folgen. Aber wenn es stimmte, was er sagte, dann war dies der einzige Weg zu Kathi.
«Du kennst dich in diesen Gängen aus?», fragte Christian nicht weniger skeptisch.
«Sorgt Euch nicht», antwortete Volkhardt und ging mit der Fackel voran. «Die letzten Jahre habe ich hier unten verbracht. Niemand weiß besser Bescheid als ich.»
Er vermied es, Lorentz und seine ehemaligen Mitstreiter zu nennen. Mit ihnen hatte er die Tunnel erkundet und Verstecke und Fluchtwege festgelegt. Die vergangenen Tage hatte er hier nach ihnen gesucht, ergebnislos. Lorentz musste ein anderes, ihm unbekanntes Versteck für seine Bande gefunden haben. Er fragte sich, wo es sich befand. Irgendwo in der Nähe des Mains vielleicht? Der Bischof hatte in jüngster Zeit graben lassen. Es würde ihn nicht wundern, wenn Lorentz genau dorthin geflüchtet war.
Der schmale und niedrige Gang hing voller Spinnweben – ein untrügliches Zeichen, dass er schon lange nicht mehr benutzt worden war. Selbst Fledermäuse hatten sich eingenistet. Fiepend drängten sie sich in die Ecken, wenn die helle und heiße Fackel ihnen zu nahe kam. Die Panzer flüchtender Käfer knackten, wenn sie unter die Füße gerieten, und Ratten stellten sich auf die Hinterbeine, um zu schnuppern, wer sie in ihrer Abgeschiedenheit störte. Der Geruch von Verwesung hing in der Luft, und Helene glaubte, auf der Stelle flüchten zu müssen. Aber Volkhardt beruhigte sie. Der Gang verzweigte sich bald, dann war es mit diesem Gestank erst einmal vorbei.
In der einen Richtung ging es zu den Wehrtürmen, in der anderen geradewegs in die Kelleranlagen des Juliusspitals. Als die Wände feucht zu werden begannen, waren sie unter dem großen Innenplatz des Spitals angekommen, wo zwei Brunnen Wasser aus der Tiefe schöpften. Ein schmaler Durchgang endete in einem der Brunnenschächte. Frische Luft kam herein. Christian und Helene atmeten erleichtert durch.
«Es ist nicht mehr weit», sagte Volkhardt. «Da vorne geht es in die Keller.»
Je näher sie den Verliesen kamen, desto besser und höher wurde das Mauerwerk. Stimmen waberten ihnen entgegen, und Volkhardt bedeutete ihnen, ab jetzt keine lauten Geräusche mehr zu machen. Er löschte die Fackel.
Das Ende des Gangs war mit einem Eisengitter versperrt. Der feuchtwarme Gestank von Exkrementen und vermodertem Stroh drang ungehindert zu ihnen durch – ein eindeutiges Zeichen, dass sie genau dort angekommen waren, wohin sie wollten.
Volkhardt legte den Finger auf die Lippen. «Leise. Die Folterknechte sind zwar dumm, aber nicht taub.»
Christian flüsterte: «Wie wollen wir das Gitter öffnen? Es ist doch bestimmt verschlossen.»
Volkhardt hatte vorgesorgt. Er nahm den langen Ast, den Christian getragen hatte, und führte ihn vorsichtig durch das Gitter zu einem Brett an der Wand. Dort hingen die Schlüssel der
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