Die Kinderhexe
nicht recht, was er mit dieser Information anfangen sollte, bis die Hebamme die Ziegenhaare präsentierte. Sie forderte Dürr auf, daran zu riechen. Anfänglich weigerte er sich, doch dann gab er nach und zog sich ebenso angeekelt zurück wie zuvor die Hebamme.
Die Bestimmung der Haare als die einer Ziege oder, wahrscheinlicher, die eines Ziegenbocks, ließ sich am ehesten am Gesicht des Malefizschreibers erkennen. Von einer Sekunde auf die andere verlor es seinen erleichterten Ausdruck und sah bestürzt aus. Entsetzt hielt er sich sogar die Hand vor den Mund.
Nun war es heraus. Der letzte Beweis für eine nächtliche Ausfahrt zum Hexensabbat war gegeben, da jeder wusste, dass der Teufel im Körper eines Ziegenbocks steckte und mindestens genauso abscheulich stank wie die Haare, die an Kathis Nachthemd hafteten.
Mit dem Beweis vor Augen fragte Dürr abermals nach und erntete erneut nur Kopfschütteln. Nein, Kathi hatte keine Unzucht begangen, aber darauf folgte ein entschiedenes Ja. Irgendwie war sie mit dem Teufel in Kontakt getreten, die Haare sprachen dafür. Wie aber war das vonstattengegangen? Auch die Hebamme zuckte mit den Schultern.
Dürr gab sich damit zufrieden und wies den Malefizschreiber an, das Weib für seine Dienste zu entlohnen. Er selbst ließ sich auf dem Stuhl nieder und dachte nach.
Kathi meinte, eine gewisse Ratlosigkeit in seinem Blick zu erkennen. Sie atmete erleichtert auf. Ihr Plan war aufgegangen. Eine fachkundige und am Malefizgericht tätige Hebamme hatte sie der Teufelsbuhlschaft freigesprochen, aber den Ausritt mit dem Besen auf den Schalksberg bestätigt. Damit hatte ihre Aussage Gewicht.
Nun fehlte nur noch eins – der Auftritt von Grit. Wenn diese eine Hebamme aus der bischöflichen Kanzlei kommen sah, sollte sie noch eine Minute warten, bevor sie dem ratlosen Dürr das nächste Rätsel aufgab. Der hatte unterdessen den Malefizschreiber angewiesen, Kathi in die Schreibstube zu holen. Schnell lief Kathi zurück an den Tisch.
Mit einer Decke in der Hand öffnete der Schreiber die Tür und legte sie Kathi um.
«Was geschieht nun mit mir?», fragte sie.
«Du musst keine Angst haben», beruhigte er sie. «Meister Dürr wird dir noch ein paar Fragen stellen, und danach kannst du nach Hause gehen.»
«Das wäre schön», seufzte sie und folgte ihm hinüber in die Stube. Dort nahm sie wieder auf der Bank neben dem Ofen Platz. Vor ihr saß Dürr, wie immer still, wie immer in Gedanken versunken, noch immer argwöhnisch. Was geht in seinem Kopf vor, fragte sie sich.
Zum zweiten Mal hatte Dürr nun ein Kind vor sich. Der kleinen Johanna war er erst nach vielen Tagen auf die Spur gekommen, und das auch nur, weil sie sich am Ende selbst überführt hatte. Er hatte damals gespürt, wie nahe er ihren Zweifeln und ihrer Widersprüchlichkeit gekommen war. Auch unter den Bürgern und ehrenwerten Herren von Stadt und Kirche hatte ein spürbares Unverständnis geherrscht.
Ein Kind sollte eine Hexe sein? Wie konnte Gott es zulassen, dass unschuldige Kinder zu Hexen wurden? Wollt ihr mich zu einem zweiten Herodes machen?
Dürr war verwirrt. Weder in der kaiserlichen Rechtsprechung noch im «Malleus Maleficarum», dem «Hexenhammer» des Heinrich Kramer, war von Kinderhexen die Rede. Dort stand lediglich geschrieben, dass Kinder nicht als Zeugen aussagen und auch nicht zur Folter herangezogen werden durften. Anders verhielt es sich mit den Kindern von Hexen. Bei ihnen war davon auszugehen, dass sie bereits mit vergifteter Milch aufgezogen worden waren und daher, wenn auch unverschuldet, selbst zu Hexen wurden. Doch davon wussten die Bürger nichts. Ihre Kinder waren ihnen heilig, auch wenn sie es mit der Zucht zuweilen übertrieben. Würde es Gott überhaupt zulassen, dass Kinder dem Hexenwerk anheimfallen könnten? Wenn ja, wie stand es dann um die Rechtschaffenheit Gottes? Ein unvorstellbarer Gedanke. Dürr mochte ihn nicht.
Dennoch, erst Johanna und nun Kathi. Er musste sich Fragen stellen. Sein Bischof würde Antworten verlangen, wenn er ihm berichtete. Erneut sah er dessen Entsetzen vor sich, als er den Vorschlag seines Kollegen Faltermayer gehört hatte. Was würde geschehen, wenn ein Kind der Hexerei bezichtigt und verurteilt würde? Wie sollte er, wie sollten die Priester und der Bischof das den Bürgern erklären? Es würde eine Reihe von Nachforschungen nach sich ziehen, die er nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ganze Familien würden entwurzelt und ins Feuer geworfen werden.
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