Die Kinderhexe
essen die besten Speisen und trinken, wann immer wir Durst haben. Ich trage saubere Kleidung und habe endlich ein Bett, ganz für mich allein.» Sie streckte die Hand vor. «Schau, ich zittere nicht mehr. Meine Hand ist ruhig, seitdem ich weiß, dass mir mein Ziehvater nicht mehr wehtun kann. Das alles habe ich dir zu verdanken. Verstehst du? Ohne dich gäbe es das alles nicht. Du hast uns gerettet.»
Kathi war sich da nicht so sicher. Sie dachte an Grit, deren Gründe für die Besagung von Felicitas Dornbusch alles andere als edel waren. Sie hatte bisher ein unbeschwertes Leben geführt, konnte tun, was ihr beliebte, und brauchte keinen Hunger zu leiden. Sie hatte es gut. Und dennoch stürzte sie eine unschuldige Seele ins Verderben.
Anna lebte im Waisenhaus. Sicher, ein wahres Zuhause war das nicht, und sie konnte sich ihre Enttäuschung vorstellen, als ihr jemand anders vorgezogen wurde. Aber musste sie sich gleich mit einem Todesurteil rächen?
Und da waren Lene und Lotti. Im Grein’schen Haus hatte es ihnen nie an etwas gefehlt. Sie hatten nie Hunger oder Durst leiden müssen, hatten stets saubere Kleidung und eine fürsorgliche Mutter gehabt, die ihnen jeden Streich verzieh. Warum also hatten sie sich plötzlich gegen ihren Vater erhoben? Eine Tracht Prügel konnte doch nicht der Anlass gewesen sein. Da hatten Kathi und all die anderen Kinder schon mehr ausgehalten. Jetzt waren sie ohne Vater und Mutter. Was würde aus ihnen werden?
«Du glaubst, du hast alles Schlimme schon gesehen?», unterbrach Ursula ihre Gedanken. Sie wiegte nachdenklich den Kopf und schaute zu Grit hinüber, die sich Fett aus der Küche besorgt hatte und damit Arme und Beine einrieb. «Von dieser Grit habe ich gehört, dass sie aus gutem Hause stammt.»
Kathi stutzte. «Grit, die liederliche Bedienung? Woher willst du das wissen?»
«Eine Magd aus dem Stachel hat in ihrer Truhe ein Tuch mit einem Wappen gefunden. Nicht irgendeines, sondern ein feines, mit dem man ein Kind, ein hochwohlgeborenes Kind, wickelt. Es war zwar gewaschen, aber Flecke von Blut konnte selbst das beste Waschweib nicht herausbringen. Das Auffällige war, dass das Tuch an dieser Stelle durchlöchert war, als habe ein Messer auf jemanden eingestochen. Aber wieso sollte so eine wie Grit, die viel auf Kleidung achtgibt, ein durchlöchertes, wertloses Tuch aufbewahren, wenn es nicht eine besondere Bedeutung hat?»
Kathi wusste keine Antwort darauf, erinnerte sich aber der auffälligen, sternförmigen Narbe auf Grits Rücken.
«Anna», fuhr Ursula fort, «ist nun schon viele Jahre im Waisenhaus. Wusstest du, dass sie nicht nur die Älteste ist, sondern auch am längsten von allen Kindern dort lebt?»
«Nein», antwortete Kathi.
«Sie kam mit zwei Jahren, und nun ist sie zwölf. Sie hat viele andere Kinder kommen und gehen sehen. Die einen starben, die anderen fanden eine Familie oder konnten sich ins Kloster retten. Nur Anna nicht. Kannst du dir vorstellen, was sie durchmacht?»
Nein, das konnte sie nicht. Sie sah stattdessen ein Mädchen auf dem Sprung zur jungen Frau, die im Nachthemd dasaß und sich das lange Haar kämmte. Hin und wieder wechselte sie vorsichtige Worte mit Grit. Die beiden waren sich nähergekommen.
Welche geheime Vergangenheit mochten die anderen Kinder haben, fragte sich Kathi. Benedikt und Ulrich, die sich gerade mit den vier Jungen von Stift Haug anlegten, der fremde Junge aus Heidingsfeld, der ganz in seine Traumwelt versunken war, und der offenbar schwachsinnige Andreß, der sich am Leid anderer erfreute?
Lene und Lotti waren die Einzigen, die still unter der Decke lagen. Was sich in ihren Köpfen und Herzen abspielte, Kathi wusste es nicht. Hatte sie in den zwei Jahren, in denen sie im Grein’schen Haus gearbeitet hatte, wirklich die ganze Wahrheit erfahren? Wie musste es für sie gewesen sein, immer in Furcht vor dem Vater zu leben?
Vielleicht waren sie die Einzigen in diesem Raum, die den Teufel je gesehen hatten.
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23
Den Kreaturen der Nacht hatte es niemals Probleme bereitet, die Grenzen zu überwinden, welche den Menschen gesetzt sind. Diese Fähigkeit verschaffte ihnen den entscheidenden Vorteil, wenn es um Leben und Tod ging.
So wie in dieser Nacht, in der kein Stern am Himmel zu sehen war und sich eine erdrückende Wolkenlast daranmachte, abermals Unglück und Verderben über die Bischofsstadt zu bringen. Auf dem Schalksberg verstummte das Geheul der Wölfe, die sich seit einiger Zeit dort
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