Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Rollläden herunterzulassen. Naranjas ist, wie sich herausstellt, tatsächlich ein Laden und verkauft wirklich Apfelsinen sowie anderes Obst und Gemüse. Während der Besitzer ungeduldig wartet, wählt er soviel aus, wie sie beide tragen können: einen kleinen Beutel Apfelsinen, ein halbes Dutzend Äpfel, ein paar Möhren und Gurken.
In ihrem Zimmer im Zentrum angekommen, schneidet er für den Jungen einen Apfel in Stücke und schält eine Apfelsine. Während der Junge diese isst, schneidet er eine Möhre und eine Gurke in dünne Scheiben und legt sie auf einen Teller. »Bitte schön!«, sagt er.
Misstrauisch stupst der Junge die Gurke an, beschnuppert sie. »Das mag ich nicht«, sagt er. »Es riecht komisch.«
»Unsinn. Gurke riecht überhaupt nicht. Das Grüne da ist nur die Schale. Koste mal. Es ist gut für dich. Du wächst dadurch.« Er isst selbst die halbe Gurke und eine ganze Möhre und eine Apfelsine.
Am nächsten Morgen sucht er wieder Naranjas auf und kauft noch mehr Obst – Bananen, Birnen, Aprikosen – und bringt das zurück in ihr Zimmer. Jetzt haben sie einen schönen Vorrat.
Er kommt zu spät zur Arbeit, aber Álvaro kommentiert es nicht.
Trotz der willkommenen Bereicherung ihrer Kost, verlässt ihn das Gefühl der körperlichen Erschöpfung nicht. Statt seine Kraft aufzubauen, scheint das tägliche schwere Heben und Tragen ihn auszulaugen. Er fühlt sich allmählich ziemlich elend; er fürchtet, vor seinen Kameraden in Ohnmacht zu fallen und sich Schande zu machen.
Wieder wendet er sich an Álvaro. »Ich fühle mich nicht wohl«, sagt er. »Schon eine ganze Weile fühle ich mich nicht wohl. Gibt es einen Arzt, den du empfehlen kannst?«
»Auf Kai Sieben gibt es eine Klinik, die nachmittags geöffnet ist. Geh sofort hin. Sag ihnen, dass du hier arbeitest; dann musst du nicht zahlen.«
Er folgt den Schildern zu Kai Sieben, wo es wirklich eine kleine Klinik gibt, schlicht
Clínica
genannt. Die Tür ist offen, der Schalter unbesetzt. Er drückt den Summer, doch er funktioniert nicht.
»Hallo!«, ruft er. »Ist jemand da?«
Stille.
Er geht hinter den Schalter und rüttelt an der verschlossenen Tür, an der
Cirugía
steht. »Hallo!«, ruft er.
Die Tür öffnet sich und er steht einem dicken rotgesichtigen Mann in einem weißen Laborkittel gegenüber, dessen Kragen ein fetter Fleck ziert, der nach Schokolade aussieht. Der Mann schwitzt stark.
»Guten Tag«, sagt er. »Sind Sie der Arzt?«
»Kommen Sie herein«, sagt der Mann. »Setzen Sie sich.« Er deutet auf einen Stuhl, setzt seine Brille ab und poliert die Gläser sorgfältig mit einem Tuch. »Arbeiten Sie hier im Hafen?«
»Auf Kai Zwei.«
»Ah, Kai Zwei. Und was kann ich für Sie tun?«
»Seit ein oder zwei Wochen fühle ich mich nicht wohl. Es gibt keine spezifischen Symptome, außer dass ich schnell ermüde und ab und zu Schwindelanfälle habe. Ich glaube, dass es vielleicht durch meine Ernährung bedingt ist, durch den Mangel an Nährstoffen in meiner Kost.«
»Wann haben Sie diese Schwindelanfälle? Zu einer bestimmten Tageszeit?«
»Keine bestimmte Tageszeit. Sie kommen, wenn ich erschöpft bin. Ich arbeite, wie gesagt, als Schauermann, be-und entlade. Es ist keine Arbeit, die ich gewohnt bin. Im Laufe eines Tages muss ich viele Male über eine Planke. Manchmal, wenn ich hinunterschaue in die Lücke zwischen Kai und Schiffseite, auf die gegen den Kai klatschenden Wellen, wird mir schwindlig. Mir ist, als würde ich gleich ausrutschen und abstürzen, mich vielleicht am Kopf stoßen und ertrinken.«
»Das klingt für mich nicht nach Unterernährung.«
»Vielleicht nicht. Aber wenn ich besser ernährt wäre, könnte ich die Schwindelanfälle leichter überwinden.«
»Haben Sie früher schon solche Ängste gehabt, Angst zu fallen und zu ertrinken?«
»Das ist kein psychologisches Problem, Doktor. Ich bin Arbeiter. Ich verrichte körperliche Arbeit. Stunde um Stunde trage ich schwere Lasten. Mein Herz hämmert. Ich bin ständig an der Grenze meiner Kräfte. Es ist doch gewiss nur natürlich, dass mein Körper manchmal nahe daran ist zu versagen, mich im Stich zu lassen.«
»Gewiss ist das natürlich. Aber wenn es natürlich ist, warum sind Sie dann zur Klinik gekommen? Was erwarten Sie von mir?«
»Finden Sie nicht, Sie sollten mein Herz abhören? Finden Sie nicht, Sie sollten mich auf Anämie untersuchen? Finden Sie nicht, wir sollten über mögliche Defizite in meiner Ernährung sprechen?«
»Ich werde Ihr Herz
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