Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Situation eskaliert am Freitagmittag, als sie ihren Lohn ausgezahlt bekommen. Als Daga sich dem Holzbrett nähert, das als Tisch dient, beugt sich Álvaro hinunter und flüstert dem Zahlmeister etwas ins Ohr. Der Zahlmeister nickt. Er legt das Geld für Daga vor sich auf das Brett.
»Was ist das?«, sagt Daga.
»Dein Lohn für die Tage, die du gearbeitet hast«, sagt Álvaro.
Daga nimmt die Münzen und schleudert sie mit einer schnellen, verächtlichen Bewegung dem Zahlmeister ins Gesicht.
»Was soll das?«, sagt Álvaro.
»Das ist ein Rattenlohn.«
»Das ist der Tarif. Das hast du verdient. Das ist, was wir alle kriegen. Willst du etwa sagen, wir sind alle Ratten?«
Die Männer scharen sich um sie. Unauffällig rafft der Zahlmeister seine Papiere zusammen und schließt den Deckel seiner Geldkassette.
Er, Simón, spürt, wie der Junge ihn beim Bein packt. »Was machen sie?«, wimmert er. Sein Gesicht ist blass und ängstlich. »Kämpfen sie?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Sag Álvaro, er soll nicht kämpfen. Sag es ihm!« Der Junge zerrt an seinen Fingern, er zerrt und zerrt.
»Komm, wir wollen weg«, sagt er. Er zieht den Jungen zum Wellenbrecher. »Schau mal da! Siehst du die Robben? Die große mit der Nase in der Luft ist das Männchen, der Robbenbulle. Und die anderen, die kleineren, sind seine Weibchen.«
Von der Menschenmenge kommt ein scharfer Schrei. Alles wirbelt durcheinander.
»Sie kämpfen!«, winselt der Junge. »Ich will nicht, dass sie kämpfen!«
Ein Halbkreis Männer hat sich um Daga gebildet, der sich hinhockt, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen, einen Arm ausgestreckt. In seiner Hand glänzt die Klinge eines Messers. »Los!«, sagt er und vollführt eine auffordernde Bewegung mit dem Messer. »Wer ist der Nächste?«
Álvaro sitzt auf der Erde, zusammengekrümmt. Er presst die Hand auf die Brust. Auf seinem Hemd ist ein Blutstreifen.
»Wer ist der Nächste?«, wiederholt Daga. Keiner bewegt sich. Er steht auf, klappt das Messer zusammen, lässt es in seine Gesäßtasche gleiten, hebt die Geldkassette hoch, leert sie auf das Brett. Münzen regnen überall hin. »Schlappschwänze!«, sagt er. Er zählt ab, was er will, versetzt dem Fass einen verächtlichen Tritt. »Bedient euch«, sagt er und kehrt den Männern den Rücken. Ohne Eile besteigt er das Fahrrad des Zahlmeisters und radelt davon.
Álvaro kommt auf die Füße. Das Blut auf seinem Hemd stammt von seiner Hand, es sickert aus einem Schnitt quer über die Handfläche.
Er, Simón, ist der Sprecher oder zumindest der Älteste – er sollte die Führung übernehmen. »Du brauchst einen Arzt«, sagt er zu Álvaro. »Gehen wir.« Er winkt dem Jungen. »Komm – wir bringen Álvaro zum Arzt.«
Der Junge rührt sich nicht.
»Was ist los?«
Die Lippen des Jungen bewegen sich, doch er hört kein Wort. Er neigt sich zu ihm. »Was ist los?«, fragt er.
»Stirbt Álvaro?«, flüstert der Junge. Sein ganzer Körper ist steif. Er zittert.
»Natürlich nicht. Er hat einen Schnitt auf der Hand, das ist alles. Er braucht ein Pflaster, damit es zu bluten aufhört. Komm. Wir wollen ihn zum Arzt bringen, und der wird ihn versorgen.«
Tatsächlich ist Álvaro schon unterwegs, begleitet von einem anderen der Männer.
»Er hat gekämpft«, sagt der Junge. »Er hat gekämpft, und nun schneidet ihm der Arzt die Hand ab.«
»Unsinn. Ärzte schneiden keine Hände ab. Der Arzt wird den Schnitt reinigen und ein Pflaster darauf kleben, oder ihn vielleicht mit Nadel und Faden zunähen. Morgen wird Álvaro wieder zur Arbeit kommen, und wir werden das Ganze vergessen haben.«
Der Junge starrt ihn durchdringend an.
»Ich schwindle nicht«, sagt er. »Ich würde dich nicht beschwindeln. Álvaros Wunde ist nicht schlimm. Dieser Mann, Señor Daga oder wie er heißt, wollte ihn nicht verletzen. Es war ein Unfall. Das Messer ist ausgerutscht. Scharfe Messer sind gefährlich. Das kann man daraus lernen: Man soll nicht mit Messern spielen. Wenn du mit Messern spielst, kannst du dich verletzen. Álvaro ist verletzt worden, zum Glück nicht schwer. Und Señor Daga hat uns verlassen, hat sein Geld genommen und ist fortgegangen. Er wird nicht wiederkommen. Er hat nicht hierher gehört, und das weiß er.«
»
Du
darfst nicht kämpfen«, sagt der Junge.
»Werde ich auch nicht, das verspreche ich dir.«
»Du darfst nie kämpfen.«
»Ich pflege nicht zu kämpfen. Und Álvaro hat nicht gekämpft. Er hat sich nur zu schützen versucht. Er hat sich zu
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