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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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schützen versucht und bekam einen Schnitt ab.« Er streckt seine Hand aus, um zu zeigen, wie Álvaro sich zu schützen versucht hat, wie Álvaro den Schnitt zugefügt bekam.
    »Álvaro hat gekämpft«, sagt der Junge und spricht die Worte mit feierlicher Entschiedenheit aus.
    »Sich zu schützen ist nicht kämpfen. Sich zu schützen ist ein natürlicher Instinkt. Wenn jemand versuchen würde, dich zu schlagen, würdest du dich schützen. Du würdest nicht erst überlegen. Pass auf.«
    In der ganzen Zeit ihres Beisammenseins hat er den Jungen nie angefasst. Jetzt hebt er plötzlich drohend die Hand. Der Junge zuckt nicht mit der Wimper. Er täuscht eine Ohrfeige vor. Er schreckt nicht zurück.
    »Nun gut«, sagt er. »Ich glaube dir.« Er lässt die Hand sinken. »Du hast recht, ich habe mich geirrt. Álvaro hätte nicht versuchen sollen, sich zu schützen. Er hätte sein sollen wie du. Er hätte tapfer sein sollen. Wollen wir jetzt zur Klinik gehen und nachschauen, wie es ihm geht?«
     
    Álvaro kommt am nächsten Tag mit der verletzten Hand in einer Schlinge zur Arbeit. Er will über den Vorfall nicht sprechen. Die Männer nehmen sich ihn zum Vorbild und reden auch nicht darüber. Aber der Junge lässt nicht locker. »Wird Señor Daga das Fahrrad zurückbringen?«, fragt er. »Warum heißt er Señor Daga?«
    »Nein, er wird nicht zurückkommen«, antwortet er, Simón. »Er mag uns nicht, ihm gefällt die Arbeit nicht, die wir machen, er hat keinen Grund, zurückzukommen. Ich weiß nicht, ob Daga sein richtiger Name ist. Es spielt keine Rolle. Namen spielen keine Rolle. Wenn er sich Daga nennen will, dann soll er doch.«
    »Aber warum hat er das Geld gestohlen?«
    »Er hat das Geld nicht
gestohlen
. Er hat das Fahrrad nicht
gestohlen
. Stehlen heißt, etwas nehmen, das einem nicht gehört, wenn keiner hinsieht. Wir haben alle zugesehen, als er das Geld genommen hat. Wir hätten ihn daran hindern können, was wir nicht getan haben. Wir haben uns entschieden, nicht mit ihm zu kämpfen. Wir haben uns entschieden, ihn gehen zu lassen. Das findet doch sicher deinen Beifall. Du sagst doch, wir sollten nicht kämpfen.«
    »Der Mann hätte ihm mehr Geld geben sollen.«
    »Der Zahlmeister? Der Zahlmeister hätte ihm geben sollen, was immer er haben wollte?«
    Der Junge nickt.
    »Das hätte er nicht machen können. Wenn der Zahlmeister jedem von uns auszahlen würde, was wir wollten, würde ihm das Geld bald ausgehen.«
    »Warum?«
    »Warum? Weil wir alle mehr wollen, als uns zusteht. So ist die menschliche Natur. Weil wir alle mehr wollen, als wir verdienen.«
    »Was ist die menschliche Natur?«
    »Das bedeutet, wie die Menschen beschaffen sind, du und ich und Álvaro und Señor Daga und alle anderen. Es bedeutet, wie wir beschaffen sind, wenn wir auf die Welt kommen. Es bedeutet, was wir alle gemeinsam haben. Wir möchten gern glauben, dass wir etwas Besonderes sind, mein Junge, jeder von uns. Aber genau genommen kann das nicht sein. Wenn wir alle etwas Besonderes wären, würde nichts Besonderes übrig bleiben. Doch wir glauben weiter an uns. Wir steigen hinunter in den Bauch des Schiffes, in die Hitze und den Staub, wir laden uns Säcke auf den Rücken und schleppen sie hinauf ins Licht, wir sehen, dass unsere Freunde schuften wie wir, dass sie genau die gleiche Arbeit tun, daran ist nichts Besonderes, und wir sind stolz auf sie und auf uns, alle Kameraden arbeiten mit einem gemeinsamen Ziel zusammen; doch in einem Winkel unseres Herzens, den wir geheim halten, flüstern wir uns zu:
Trotzdem, trotz alledem, bist du etwas Besonderes, du wirst es sehen! Eines Tages, wenn wir es am wenigsten erwarten, wird ein Signal auf Álvaros Pfeife ertönen, und wir werden alle aufgerufen, uns auf dem Kai zu versammeln, wo schon eine große Menschenmenge wartet, und auch ein Mann in schwarzem Anzug und Zylinder; und der Mann im schwarzen Anzug wird dich auffordern, nach vorn zu treten, und sagen:
Sehet diesen einzigartigen Arbeiter, der unser Wohlgefallen hat!,
und er wird uns die Hand schütteln und eine Medaille an die Brust heften
– Für überdurchschnittliche Pflichterfüllung,
wird auf der Medaille stehen – und alle werden jubeln und klatschen.
    Es liegt in der menschlichen Natur, solche Träume zu haben, selbst wenn es klug wäre, sie für uns zu behalten. Wie wir alle dachte Señor Daga, er sei etwas Besonderes; aber er behielt diesen Gedanken nicht für sich. Er wollte ausgezeichnet werden. Er wollte Anerkennung.«
    Er

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