Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
kontrollieren, wie Sie vorschlagen, aber ich kann Sie nicht auf Anämie untersuchen. Das ist kein Medizinlabor, es ist nur eine Klinik, eine Erste-Hilfe-Klinik für Hafenarbeiter. Ziehen Sie Ihr Hemd aus.«
Er legt sein Hemd ab. Der Arzt drückt ihm ein Stethoskop auf die Brust, richtet den Blick zur Decke, lauscht. Sein Atem riecht nach Knoblauch. »Mit Ihrem Herzen ist alles in Ordnung«, sagt er schließlich. »Es ist ein gutes Herz. Es wird Ihnen viele Jahre dienen. Sie können wieder an die Arbeit gehen.«
Er steht auf. »Wie können Sie das sagen? Ich bin erschöpft. Mit mir stimmt etwas nicht. Mein Allgemeinbefinden verschlechtert sich von Tag zu Tag. Das habe ich nicht erwartet, als ich hier angekommen bin. Krankheit, Erschöpfung, Unglücklichsein – nichts davon habe ich erwartet. Ich habe Vorahnungen – keine bloß geistigen Vorahnungen, sondern echte körperliche Vorahnungen –, dass ich dem Zusammenbruch nahe bin. Mein Körper signalisiert mir auf jede ihm mögliche Weise, dass er kurz vorm Versagen ist. Wie können Sie da behaupten, mir fehle nichts?«
Schweigen. Sorgfältig verstaut der Arzt sein Stethoskop in seiner schwarzen Tasche und legt es wieder in einen Schubkasten. Er stützt die Ellbogen auf seinen Schreibtisch, faltet die Hände ineinander, legt das Kinn auf seine Hände und spricht. »Guter Mann«, sagt er, »bestimmt sind Sie nicht in diese kleine Klinik gekommen und haben ein Wunder erwartet. Wenn Sie auf ein Wunder gehofft hätten, dann hätten Sie sich an ein ordentliches Krankenhaus gewandt, mit einem ordentlichen Labor. Alles, was ich Ihnen bieten kann, ist guter Rat. Mein Rat ist schlicht: Schauen Sie nicht nach unten. Sie haben diese Schwindelanfälle, weil Sie nach unten blicken. Schwindel ist ein psychologisches Problem, kein medizinisches. Das Hinunterschauen löst die Anfälle aus.«
»Das ist alles, was Sie empfehlen können: Nicht nach unten zu schauen?«
»Das ist alles, falls Sie keine Symptome objektiver Natur haben, die Sie mir mitteilen können.«
»Nein, keine solchen Symptome. Überhaupt keine solchen Symptome.«
»Wie war’s?«, fragt Álvaro, als er zurückkommt. »Hast du die Klinik gefunden?«
»Ich habe die Klinik gefunden, und ich habe mit dem Arzt gesprochen. Er sagt, dass ich nach oben schauen soll. Solange ich nach oben schaue, wird es mir gutgehen. Wenn ich aber nach unten schaue, könnte ich fallen.«
»Das hört sich wie ein guter, vernünftiger Rat an«, sagt Álvaro. »Nichts Versponnenes. Nimm dir doch den Tag frei und ruh dich ein wenig aus.«
Trotz des frischen Obstes von Naranjas, trotz der Versicherung des Arztes, dass sein Herz gesund ist und dass es keinen Grund gibt, warum er nicht viele Jahre lang leben sollte, fühlt er sich weiterhin erschöpft. Und auch die Schwindelgefühle hören nicht auf. Obwohl er den Rat des Arztes, beim Schreiten über die Planke nicht hinunterzuschauen, befolgt, kann er doch das bedrohliche Klatschen der Wellen gegen die ölige Kaimauer nicht ausblenden.
»Das ist nur Schwindel«, beruhigt ihn Álvaro und klopft ihm auf den Rücken. »Viele leiden daran. Zum Glück ist es nur im Kopf. Es ist nicht real. Du musst es ignorieren, dann verschwindet es bald wieder.«
Das überzeugt ihn nicht. Er glaubt nicht, dass das, was ihn bedrückt, verschwindet.
»Und übrigens«, sagt Álvaro, »wenn du zufällig tatsächlich ausrutschen und fallen solltest, würdest du nicht ertrinken. Einer wird dich retten. Ich werde dich retten. Wozu sind sonst Kameraden da?«
»Du würdest ins Wasser springen und mich retten?«
»Wenn es nötig ist. Oder dir ein Seil zuwerfen.«
»Ja, ein Seil zuzuwerfen wäre rationeller.«
Álvaro ignoriert das Bissige seiner Bemerkung, oder vielleicht nimmt er es nicht wahr. »Praktischer«, sagt er.
»Ist das alles, was wir jemals ausladen – Weizen?«, fragt er Álvaro bei einer anderen Gelegenheit.
»Weizen und Roggen«, antwortet Álvaro.
»Aber importieren wir nur das hier im Hafen: Getreide?«
»Es kommt darauf an, was du mit
wir
meinst. Kai Zwei ist bestimmt für Getreidefracht. Wenn du auf Kai Sieben arbeiten würdest, würdest du verschiedene Fracht löschen. Auf Kai Neun würdest du Stahl und Zement löschen. Bist du nicht im Hafen herumgekommen? Hast du dich nicht umgeschaut?«
»Doch. Aber auf den anderen Kais war es immer leer. Wie jetzt auch.«
»Nun, das ist doch verständlich, oder? Man braucht nicht jeden Tag ein neues Fahrrad. Man braucht nicht jeden Tag neue
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