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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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hält inne. Vom Gesichtsausdruck des Jungen ist nicht abzulesen, dass er ein Wort verstanden hat. Ist heute einer seiner einfältigen Tage oder ist er einfach störrisch?
    »Señor Daga wollte gelobt werden und eine Medaille bekommen«, sagt er. »Als er die Medaille, von der er träumte, nicht bekam, nahm er dafür das Geld. Er nahm, was er glaubte, verdient zu haben. Das ist alles.«
    »Warum hat er keine Medaille bekommen?«, fragt der Junge.
    »Weil, wenn wir alle Medaillen bekämen, Medaillen nichts wert sein würden. Weil man sich Medaillen verdienen muss. Wie Geld. Du kriegst keine Medaille, nur weil du eine haben willst.«
    »Ich würde Señor Daga eine Medaille geben.«
    »Na, dann sollten wir vielleicht dich zu unserem Zahlmeister machen. Dann kriegen wir alle Medaillen und soviel Geld, wie wir wollen, und nächste Woche ist dann nichts mehr in der Geldkassette.«
    »In der Geldkassette ist immer Geld«, sagt der Junge. »Deshalb heißt sie ja Geldkassette.«
    Er wirft die Hände in die Höhe. »Ich streite mich nicht mit dir, wenn du dich dumm stellst.«

Sieben
    E inige Wochen nachdem sie sich im Zentrum vorgestellt haben, kommt ein Brief vom Büro des Ministerio de Reubicación in Novilla, der ihm mitteilt, dass ihm und seiner Familie eine Wohnung in der Ost-Vorstadt zugeteilt wurde, deren Bezug spätestens am Mittag des kommenden Montags erfolgt sein soll.
    Die Ost-Vorstadt, besser bekannt als die Ostsiedlung, ist ein Viertel mit Sozialwohnungen östlich vom Park, einer Gruppe von Mehrfamilienhäusern mit Rasenflächen dazwischen. Er hat sich mit dem Jungen schon dort umgesehen, wie sie sich auch das Zwillingsviertel, die West-Vorstadt, angesehen haben. Die Häuserblocks, aus denen der Vorort besteht, sind von identischer Bauart, vier Stock hoch. In jedem Stockwerk gehen sechs Wohnungen auf einen Platz, wo es Gemeinschaftseinrichtungen gibt wie einen Kinderspielplatz, ein Planschbecken, Fahrradständer und einen Trockenplatz. Die Ost-Vorstadt gilt allgemein als erstrebenswerter als die West-Vorstadt; sie können sich glücklich schätzen, dorthin geschickt zu werden.
    Der Umzug dorthin vom Zentrum ist leicht bewerkstelligt, denn sie besitzen nur wenig und haben keine Freunde gewonnen. Als Nachbarn hatten sie auf der einen Seite einen alten Mann, der im Morgenmantel herumtattert und Selbstgespräche führt, und auf der anderen ein reserviertes Ehepaar, das so tut, als verstünde es sein Spanisch nicht.
    Die neue Wohnung im zweiten Stock ist von bescheidener Größe und sparsam möbliert: zwei Betten, ein Tisch und Stühle, eine Kommode und Metallregale. Ein winziger Anbau enthält einen Elektrokocher auf einem Ständer und ein Becken mit fließendem Wasser. Hinter einer Schiebetür verbergen sich Dusche und Toilette.
    Für das erste Abendessen in der Siedlung bereitet er das Lieblingsessen des Jungen zu, Pancakes mit Butter und Marmelade. »Hier werden wir uns wohlfühlen, was?«, sagt er. »Das wird ein neues Kapitel in unserem Leben.«
    Da er Álvaro davon informiert hat, dass er sich nicht wohl fühlt, hat er keine Bedenken, tageweise freizunehmen. Er verdient mehr als genug für ihre Bedürfnisse, es gibt wenig, wofür er sein Geld ausgeben könnte, er sieht nicht ein, warum er sich sinnlos verausgaben sollte. Außerdem gibt es immer Arbeit suchende Neuankömmlinge, die ihn im Hafen ersetzen können. So verbringt er einige Vormittage einfach im Bett liegend, dösend und wachend, die sonnige Wärme genießend, die durch die Fenster ihres neuen Zuhauses strömt.
    Ich rüste mich
, sagt er sich.
Ich rüste mich für das nächste Kapitel in diesem Unternehmen.
Mit dem nächsten Kapitel meint er die Suche nach der Mutter des Jungen, die Suche, von der er noch nicht weiß, wo er sie beginnen soll.
Ich sammle meine Kräfte; ich schmiede Pläne.
    Während er sich erholt, spielt der Junge draußen im Sandkasten oder auf den Schaukeln oder streift zwischen den Wäscheleinen umher, summt vor sich hin und wickelt sich in trocknende Bettwäsche wie in einen Kokon, dann kreiselt er, bis er wieder ausgewickelt ist. Das ist ein Spiel, das er offenbar nicht satt bekommt.
    »Ich glaube kaum, dass unsere Nachbarn erfreut darüber sein werden, wenn sie sehen, was du mit ihrer frisch gewaschenen Wäsche anstellst«, sagt er. »Was findest du daran so toll?«
    »Sie riecht so gut.«
    Als er das nächste Mal über den Hof geht, drückt er diskret sein Gesicht in ein Betttuch und atmet tief ein. Es riecht sauber und warm

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