Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Schuhe oder neue Kleidung. Aber man muss jeden Tag essen. Daher brauchen wir viel Getreide.«
»Demnach hätte ich es leichter, wenn ich zu Kai Sieben oder Kai Neun wechseln würde. Ich könnte ganze Wochen freimachen.«
»Korrekt. Wenn du auf Sieben oder Neun arbeiten würdest, hättest du es leichter. Aber dann hättest du auch keine Vollzeitarbeit. Daher bist du auf Zwei besser dran.«
»Ich begreife. Es ist also zu meinem Besten, dass ich hier bin, auf diesem Kai, in diesem Hafen, in dieser Stadt, in diesem Land. Alles steht zum Besten in dieser besten aller möglichen Welten.«
Álvaro runzelt die Stirn. »Das ist keine mögliche Welt«, sagt er. »Es ist die einzige Welt. Ob sie das zur besten macht, das haben weder du noch ich zu entscheiden.«
Ihm fallen mehrere Entgegnungen ein, aber er sieht davon ab, sie zu äußern. Vielleicht wäre es in dieser Welt, die die einzige Welt ist, klug, sich von Ironie zu verabschieden.
Sechs
W ie versprochen hat Álvaro dem Jungen das Schachspiel beigebracht. Wenn die Arbeit nicht drängt, sieht man die beiden über ein Taschenschach gebeugt an einem schattigen Fleckchen, in das Spiel vertieft.
»Er hat mich gerade geschlagen«, berichtet Álvaro. »Erst zwei Wochen und er ist schon besser als ich.«
Eugenio, der Gebildetste unter den Schauerleuten, fordert den Jungen heraus. »Ein Blitzspiel«, sagt er. »Wir haben beide fünf Sekunden, um unseren Zug zu machen. Eins-zwei-drei-vier-fünf.«
Umringt von Zuschauern spielen sie ihr Blitz-Schach. Es dauert nur ein paar Minuten und der Junge hat Eugenio in eine Ecke gedrängt. Eugenio stupst seinen König an und er fällt. »Ich werd’s mir zweimal überlegen, ehe ich es noch mal mit dir aufnehme«, sagt er. »In dir steckt ein richtiger Teufel.«
Abends an diesem Tag im Bus will er über das Spiel und Eugenios seltsame Bemerkung sprechen; doch der Junge ist wortkarg.
»Möchtest du, dass ich dir ein eigenes Schachspiel kaufe?«, bietet er an. »Dann kannst du zu Hause üben.«
Der Junge schüttelt den Kopf. »Ich will nicht üben. Ich mag Schach nicht.«
»Aber du kannst es so gut.«
Der Junge zuckt mit den Schultern.
»Wenn man ein Talent besitzt, hat man die Pflicht, es nicht zu verstecken«, lässt er nicht locker.
»Warum?«
»Warum? Weil die Welt ein besserer Ort ist, vermute ich, wenn jeder von uns etwas besonders gut kann.«
Der Junge starrt mürrisch aus dem Fenster.
»Ärgerst du dich über das, was Eugenio gesagt hat? Das brauchst du nicht. Er hat es nicht so gemeint.«
»Ich ärgere mich nicht. Mir gefällt Schach einfach nicht.«
»Na, da wird Álvaro aber enttäuscht sein.«
Am nächsten Tag taucht ein Fremder im Hafen auf. Er ist klein und drahtig; seine Haut ist zu einem dunklen Walnussbraun verbrannt; die Augen liegen tief in den Höhlen, die Nase ist gebogen wie ein Habichtschnabel. Er trägt verblichene Jeans mit Schmierölstreifen und narbige Lederstiefel.
Aus seiner Brusttasche holt er einen Zettel, gibt ihn Álvaro und steht dann wortlos da und starrt in die Ferne.
»Gut«, sagt Álvaro. »Wir entladen den restlichen Tag und den größten Teil des morgigen. Wenn du bereit bist, reihe dich ein.«
Aus derselben Brusttasche holt der Fremde ein Päckchen Zigaretten. Ohne sie ringsum anzubieten, zündet er sich eine an und tut einen tiefen Zug.
»Denk dran«, sagt Álvaro, »im Laderaum wird nicht geraucht.«
Der Mann gibt nicht zu erkennen, dass er das gehört hat. Ruhig schaut er sich um. Der Rauch von seiner Zigarette steigt in die stille Luft.
Sein Name, lässt Álvaro wissen, ist Daga. Niemand nennt ihn anders, nicht »der neue Mann«, nicht »der Neue«.
Trotz seiner kleinen Statur ist Daga stark. Er schwankt keinen Millimeter, als ihm der erste Sack auf die Schultern geladen wird; er steigt rasch und stetig die Leiter hoch; er geht mit großen Schritten die Planke hinunter und hebt den Sack anscheinend mühelos auf den wartenden Wagen. Aber dann zieht er sich in den Schatten des Schuppens zurück, hockt sich auf die Fersen und zündet eine weitere Zigarette an.
Álvaro marschiert zu ihm hin. »Keine Pausen, Daga«, sagt er. »Mach weiter.«
»Was ist das Soll?«, fragt Daga.
»Es gibt kein Soll. Wir werden pro Tag bezahlt.«
»Fünfzig Sack pro Tag«, sagt Daga.
»Wir entladen mehr als das.«
»Wieviel?«
»Mehr als fünfzig. Kein Soll. Jeder Mann trägt soviel er kann.«
»Fünfzig. Nicht mehr.«
»Steh auf. Wenn du rauchen musst, warte bis zur Pause.«
Die
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